Ein populärer Hermetiker

Im heimatlichen Polen gehört Miron Białoszewski (1922-1983) zu den bekanntesten, ja – zu den populärsten Schriftstellern der Nachkriegsliteratur. Manche seiner Gedichte hat er selbst vertont und erfolgreich vorgetragen, andere sind als Chansons in die Unterhaltungsmusik eingegangen. Sein ebenso umfangreiches wie disparates Werk, bestehend aus Lyrik und Prosa, Theaterstücken und Reiseberichten, aber auch aus hochkarätigen Erinnerungsschriften und Tagebüchern, liegt in einer zwölfbändigen postumen Gesamtausgabe vor und weist ihn heute als einen nationalen Klassiker des 20. Jahrhunderts aus.
Wenn Białoszewski – im Unterschied etwa zu seinen Zeitgenossen Zbigniew Herbert oder Wisława Szymborska – ausserhalb Polens bisher noch kaum wahrgenommen worden ist, hat dies gleichermassen thematische und formale Gründe. Er ist ein egomanischer Autor, für den ein Blick in den Spiegel, in die Zeitung oder in ein fremdes Gesicht, aber auch ein Wohnungswechsel oder ein schwarzgalliger Koller zum lyrischen Sujet werden kann, einer, dem Gediegenheit, Bildungsgut, Könnerschaft egal sind. Białoszewski hat einen polyphonen Personalstil entwickelt, der vorab die minderen Register der polnischen Sprache in sich vereint, die Jargons der Alltagsrede und das Pathos politischer Verlautbarungen ebenso wie das Parlando des Volksmärchens, der Bibel oder des delirierenden Autisten.
Die reiche Instrumentierung seiner lyrischen und erzählerischen Rhetorik wie auch die permanenten Anspielungen auf zutiefst persönliche, meist problematische Befindlichkeiten oder auf schwerlich eruierbare historische und literarische Bezugspunkte – all das macht Białoszewskis Texte (vollends die Gedichte) für jeden Übersetzer zu einer abschreckenden Provokation. Diese wird noch verschärft dadurch, dass der Autor Grammatik und Syntax in vielen Fällen krass missachtet; dass er einzelne Verse oder Wörter mittendrin abbricht; dass er ganze Redeteile als Substantive verwendet und dass er überdies zahlreiche Begriffe nach eigenem Gutdünken umformt oder neu erstellt. Selbst polnische Leser vermögen derartige Brüche und Entstellungen nicht ohne weiteres zu überbrücken, sie aber in einer Fremdsprache unter Beibehaltung ihrer ganzen Assoziationsfülle adäquat wiederzugeben, ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Um so mehr darf man sich freuen, dass ein kleiner Leipziger Verlag das Interesse und die Energie aufgebracht hat, Miron Białoszewski, so vielen Widerständen zum Trotz, ins Deutsche zu bringen. Federführend war dabei die Polonistin Dagmara Kraus, die nun für eine erste grössere Lyrikauswahl in Buchform verantwortlich zeichnet. Die zweisprachige Präsentation der Texte lässt die immensen Schwierigkeiten der Übersetzung deutlich hervortreten. Eigentlich kann von Übersetzung in diesem Fall gar nicht gesprochen werden. Die mehr oder minder wörtliche Wiedergabe der Originaltexte würde im Deutschen vollends unverständliche Unsinnspoesie erbringen. Also mussten die Gedichte in der Zielsprache nicht primär nach ihrer Aussage, sondern nach ihrer Machart, ihrer lautlichen und rhythmischen Struktur nachgebaut werden. Ein riskantes Unterfangen, das hier allerdings manche Treffer für sich beanspruchen kann. Nur sollte sich der deutschsprachige Leser stets bewusst sein, dass er immer nur eine von vielen möglichen Versionen vor sich hat – Białoszewski zu übersetzen ist eine kaum abschliessbare Daueraufgabe, und keine Lösung im Einzelnen wie im Ganzen kann als definitiv gelten. Was bekanntlich auf jeden starken Autor zutrifft.
Als Beispiel sei ein Gedicht angeführt, in dem Białoszewski ungeschlacht und genialisch zugleich dartut, dass er eigentlich nicht schreiben kann, jedenfalls nicht korrekt nach Schulgrammatik oder gar lyrischem Standard – allein schon die defekte Zeichensetzung und die löchrige Syntax machen es klar: „s ist dunkel hier … | was ist vom grauen Pulli zu sagen? | – nichts als das. | draussen | ist die ausgepresste Zitrone vorbei | Schnee | der Baum aus Frost und Gestaltstruktur | schwätzt nicht | rauscht nicht | wo lang geht’s aus dem Wort?“ − Mehr als ein rechtschaffender (und berechtigter) Übersetzungsversuch ist das nicht – das Gedicht könnte in der Zielsprache auch völlig anders daherkommen und dennoch irgendwie „entsprechend“ sein.
Die Herausgeberin scheint das genau so einzuschätzen und hat deshalb mehr als ein Dutzend deutsche Autoren eingeladen, einige kürzere Gedichte unabhängig voneinander in jeweils eigener Fassung zu übertragen. Inwieweit die Beteiligten mit den polnischen Originalen vertraut waren oder ob sie nach (wessen?) Interlinearfassungen gearbeitet haben, wird leider nicht mitgeteilt. Erwartungsgemäss resultierten aus dem mehrstimmigen Übersetzungsversuch völlig unterschiedliche Texte, die teilweise gerade noch in zwei, drei Kernbegriffen miteinander übereinstimmen. Von den vierzehn Varianten zu einem melancholischen lyrischen Selbstportrait des Autors erweist sich die Fassung von Ulf Stolterfoth als besonders gelungen. Obwohl die Nachdichtung in Sachen Wörtlichkeit manches zu wünschen lässt, wird sie dem Original in klanglicher Hinsicht optimal gerecht. Man beachte die gehäuften Alliterationen (mann/manisch/mache etc.) und die diskret verteilten lautlichen Entsprechungen (wörterns/ möchten/örterns): „martert mann miron sich selbst martert | manisch seines wörterns unvermöchten | untauglicher mache | örterns“.
Aber eben: Dazu gibt es in dem Band dreizehn weitere Eindeutschungen zu lesen, die alle in irgendeiner Weise zum Original „passen“ und es jeweils doch, ohne fehlerhaft zu sein, verpassen. Insgesamt: mehr als ein Lesevergnügen – ein Leseabenteuer; und nicht zuletzt ein Anstoss für weiterführende übersetzerische Dialoge mit Miron Białoszewski.

[Miron Białoszewski, Wir Seesterne. Gedichte polnisch und deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Dagmara Kraus. 2., überarbeitete Auflage. Leipzig 2016. – Miron Białoszewski, Vom Eischlupf. Nachdichtungen polnisch und deutsch. Herausgegeben von Dagmara Kraus. Leipzig 2015.]

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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