Erfüllte Dingwelt, schön!

Als „wüst und leer“ wird die Welt, wird das All in biblischem Kontext gemeinhin charakterisiert. Die Leere und Wüstheit vorm ersten Schöpfungstag, der den Ansatz zur Fülle, Vollkommenheit, Schönheit bildet, scheint noch heute, da Astronomie und Astrophysik die Grenzen der Beobachtung wie der Berechenbarkeit des Universums markant erweitert haben, fortzubestehn. Man kann vermuten, dass „wüst“ und „leer“ ganz einfach als Epitheta für eine Welt ohne Leben, vorab ohne Menschen gelten sollen. Wo der Mensch fehlt, fehlen Bewusstsein und Sprache, Gut und Böse, fehlt das angeblich höchste Produkt allmächtiger Schöpfung.
Aber es gibt doch, es gab schon immer die gewaltige, uneinholbare Dingwelt, die auch mit ohne Menschen, in ihrer puren Materialität, ihre Grandiosität, ja Majestät bezeugt, sie bewahrt. Doch diese selbstgenügsame, noch immer nicht bis ins Letzte berechenbare Dingwelt kann vor der Menschenwelt wertmässig nicht bestehen. Als etwas Äusserliches, Urweltliches wird sie vereinnahmt, kartographiert, durchgerechnet und – in Bestätigung menschlicher Herrschermacht – tausendfach mit Namen besetzt, die grösstenteils als Wunschprojektionen zu gelten haben.
Die Dinge vor Namengebung und Funktionsbestimmung, mithin aus menschlicher „Fremdherrschaft“ zu retten, das war eins der Hauptanliegen der Dichterin Marina Zwetajewa – in manchen ihrer Texte belobigt sie das „Eigenleben“ des Erzes in der Glocke, des Holzes im Tisch, in der Treppe, des Steins in der Mauer und in der Skulptur.
Doch wie sollten die Dinge ausgerechnet durch die Sprachkunst in ihre ursprüngliche Namenlosigkeit „gerettet“ werden? Wenn nicht durch konsequentes und andächtiges Schweigen!

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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