Erinnerungsschrift zwischen Suche und Fund

Seit vielen Wochen folge ich auf Radio Espace 2 fast täglich um halb acht in der Früh der integralen Lesung aus Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit, hoffend, durch die akustische Vermittlung des Originaltexts ein besseres Verständnis des Romans zu gewinnen, ihn adäquater einschätzen und beurteilen zu können, als es mir bisher bei eigener Lektüre gelungen ist.
Doch das Hinhören auf den mit subtiler Ironie perfekt vorgetragenen Text erbringt keinerlei Mehrwert im Vergleich zu stillem Lesen, ändert also auch nichts an meiner anhaltenden Skepsis gegenüber diesem angeblichen Jahrhundertroman wie auch gegenüber Proust als einem der grossen Protagonisten der literarischen Moderne.
Weiterhin vermag ich nichts Ausserordentliches oder besonders Originelles zu erkennen an den oft zitierten Schlüsselszenen mit dem duftenden Teegebäck und dem kleinen gelben Mauerstück, die bei Proust − metaphorisch − als Generatoren menschlichen Erinnerungs- und Gestaltungsvermögens fungieren.
Den Roman in voller Länge vorgelesen zu bekommen, verstärkt bei mir den Eindruck, einem ständigen, kaum strukturierten Stimmengewirr ausgesetzt zu sein, an dem jede Stimme eigenständigen Anteil hat, ohne aber eine eigene Intonation und eigenen Charakter zu gewinnen, so als liesse Proust eine Vielzahl von Marionetten, die er ingeniös zu gängeln weiss, mit der immer gleichen Stimme sprechen, die gleichzeitig seine Stimme und die seines Erzählers ist.
Dies etwa im Unterschied zu Fjodor Dostojewskij, der seine zahlreichen Protagonisten mit ebenso zahlreichen individuellen Stimmen (wie auch Gesichtspunkten) ausstattet. Proust wiederum bietet statt dessen ein vielstimmiges Unisono, getragen von einer kollektivierten Erzählerstimme, die jeden Protagonisten gleichermassen und gleichberechtigt zu Wort kommen lässt, doch eben nicht in seiner individuellen Souveränität und seiner unverwechselbaren Eigenart.
Von daher erklärt sich die stilistische Homogenität dieser kollektiven Rede, die all den vielen Adligen und Grossbürgern in der Suche eigen und zugleich gemeinsam ist und von der sich selbst die Sprache der Bediensteten kaum unterscheidet. Um so deutlicher und eindrücklicher kommt die formale Struktur zur Geltung, vorab der hochkomplexe Satzbau, eine Qualität mithin, die eher deskriptiven oder diskursiven Texten eigen ist denn der Rollenprosa direkter Rede. Trotz seiner ausgeprägten Kolloquialität ist Prousts Roman weniger als Erzähl- denn als Schrifttext angelegt. 

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Mein morgendliches Exerzitium als Hörer der Suche nach der verlorenen Zeit hat mich bisher zum Wiederlesen des Erzählwerks nicht animiert, hat auch meine früheren Vorbehalte kaum vermindert. Statt dessen nehme ich mir nun täglich ein paar Seiten aus der Spielregel (La règle du jeu, 1948-1976) von Michel Leiris vor, die ich seit vielen Jahren nicht mehr in der Hand hatte; zur Zeit bin ich wieder einmal im vierten Band (Frêle bruit) zugang, der mich in meiner Auffassung bestärkt, dass nicht Proust, sondern eben Leiris der Autor ist, der die Erinnerung am überzeugendsten zum Motor literarischer Produktion gemacht hat, und dies gerade nicht „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, sondern umgekehrt − bei der Abarbeitung des Gedächtnisses als Fundort verwahrter Gegenwart.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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