Essayismus als Lebensform

Dass es zwischen strenger (diskursiver) Begrifflichkeit und kühner (poetischer) Metaphorik auch eine ungefähre Präzision beziehungsweise eine Präzision im Ungefähren geben kann, hat Robert Musil in seinem Romanwerk Der Mann ohne Eigenschaften dargelegt; und mehr als das – er hat es gleichzeitig auch als Schreibpraxis vorgeführt und gerechtfertigt in Form einer „Utopie des Essayismus“, die er durch Ulrich, den Titelhelden, vertreten lässt. Ulrich setzt allerdings nicht beim Essay als Diskurstyp an, vielmehr analysiert und problematisiert er seine „essayistische“ Lebensweise, die ihn, den ständig Schwankenden und Zweifelnden, zu einem Dazwischer macht, unwillkürlich changierend zwischen Meinungen, Überzeugungen, Wunschvorstellungen, Träumen, spontanen Einfällen und robusten Wissensdaten.
Dem Mann ohne Eigenschaften geht es vorab darum, sich selbst in sozialer, psychischer, intellektueller Hinsicht ins Gleichgewicht zu bringen, all seine Interessen und Bedürfnisse auszutarieren, ohne – in welchem Bereich auch immer – merkliche Abstriche machen oder Supplemente beisteuern zu müssen: Ulrichs „utopischer“ Versuch (der auch ein Versuch ist, „hypothetisch“ zu leben) besteht also darin, Physik und Lyrik, Rationalität und Wahnsinn, Politik und Liebe auf einen Nenner zu bringen, um solcherart Präzision und Phantasma zu synthetisieren, sie in phantastischer Präzision, gleichzeitig aber auch in präziser Phantastik aufgehen zu lassen.
Damit sollen, wie Musil und mit ihm sein Protagonist es sich vorstellt, endlich die „zwei Geistesverfassungen“ versöhnt werden, die exakte, an Fakten orientierte und die poetische, von der Einbildungskraft beherrschte, „die einander nicht nur bekämpfen, sondern die gewöhnlich, was schlimmer ist, nebeneinander bestehen, ohne ein Wort zu wechseln“: „Die eine begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut immer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewigen und grossen Wahrheiten her.“ Die wissenschaftliche kann ohne die künstlerische Kultur nicht auskommen – auch noch so viele „Abhandlungen über die Ameisensäure“ werden das menschliche Bedürfnis nach der Erkundung „grosser Zusammenhänge“ nicht zufriedenstellen. Von daher die Klage „einer neuen Generation“, der auch der Mann ohne Eigenschaften angehört, darüber, „dass das pure Wissen einem unseligen Etwas gleiche, das alles hohe Menschenwerk zerreisse“, was die „Rückkehr zu den inneren Urtümern“ um so dringlicher erscheinen lasse.
Das Entweder-oder soll überboten werden durch ein Sowohl-als-auch, welches – Luhmanns Postulat entsprechend – Theorie und Poesie gleichermassen zur Geltung bringt. Die unaufhaltsam sich ausbreitende Vagheit, Unbestimmtheit, Ungewissheit, Vorläufigkeit, Hinfälligkeit, mithin auch der „unscharfe Typus Mensch“ machen dem Mann ohne Eigenschaften klar: „Diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist.“
Da die Gegenwart gleichsam in hypothetischem Status oszilliert, nimmt auch der Mensch hypothetischen Charakter an und bemüht sich um eine hypothetische Lebensführung, um „einen Schritt, der nach allen Seiten frei ist, aber von einem Gleichgewicht zum nächsten und immer vorwärts führt“. Vorwärts ins Ungewisse, Unversicherbare, fort von puren Fakten und rationalen Gewissheiten – das ist der Grundimpuls Ulrichs, der sich nun vorrangig in seiner Potentialität begreift, und nicht in seinem Gewordensein. Hier soll denn auch der utopische Musilsche Essayismus sich entfalten können, ausgehend nicht von wissenschaftlich beglaubigten Erkenntnissen, Prognosen und Handlungsvorgaben, vielmehr „von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen“, in das sie eingeschlossen sind und das ihren „Wert“ bestimmt.
„Es entstand auf diese Weise“, so heisst es weiter im Text, „ein unendliches System von Zusammenhängen, in dem es unabhängige Bedeutungen, wie sie das gewöhnliche Leben in einer groben ersten Annäherung den Handlungen und Eigenschaften zuschreibt, überhaupt nicht mehr gab; das scheinbar Feste wurde darin zum durchlässigen Vorwand für viele andere Bedeutungen, das Geschehende zum Symbol von etwas, das vielleicht nicht geschah, aber hindurch gefühlt wurde, und der Mensch als Inbegriff seiner Möglichkeiten, der potentielle Mensch, das ungeschriebene Gedicht seines Daseins trat dem Menschen als Niederschrift, als Wirklichkeit und Charakter entgegen.“ − Die bestürzende Aktualität dieser Sätze (kursiv von mir) schlägt, ihrer Umständlichkeit zum Trotz, noch heute voll durch.
Und dass die angeführten Zitate nicht aus einer philosophischen oder sozialkritischen Abhandlung stammen, sondern aus einem Erzählwerk, unterstreicht die Dringlichkeit der Luhmann’schen Forderung nach literarischen Zweit- bzw. Parallelfassungen wissenschaftlich-technischer Theoriediskurse. Doch welcher Gegenwartsautor, welche Autorin wäre in der Lage, dieser Forderung literarisch wie auch wissenschaftlich auf Robert Musils intellektuellem und künstlerischem Niveau zu entsprechen? Da müsste man schon auf Hans Blumenberg zurück-, genauer: vorgreifen.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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