Falsche Wahrsager

Dass ideologisch verblendete „Wahrsager“ durchaus auch – tatsächlich − Wahres zu sagen haben, weiss man von Cioran, Benn, Heidegger, Sartre, Schmitt, Lukács, Ernst Bloch, Erhart Kästner und manch andern, die mit verbrecherischen Ideologien und Regimen bedenkenlos fraternisiert, wenn nicht kollaboriert haben. − Ludwig Klages, seinerzeit als Philosoph und Graphologe hoch geschätzt, dabei ein unverblümter NS-Adept, gehört zur Prominenz dieser erfolgreichen Mitläufer und Handlanger, und auch er hat, seinem langfristigen Fehldenken zum Trotz, die eine und andere Wahrheit vorformuliert, die man heute unverändert aufgreifen und nutzbar machen könnte … machen sollte.
In seinem Essay Mensch und Erde von 1913 hält Klages kulturpessimistisch fest, was ein gutes Jahrhundert danach noch „wahrer“, noch aktueller sein wird: „Die meisten leben nicht, sondern existieren nur mehr, sei es als Sklaven des Berufs, die sich maschinenhaft im Dienste grosser Betriebe verbrauchen, sei es als Sklaven des Geldes, besinnungslos anheimgegeben dem Zahlendelirium der Aktien und Gründungen, sei es endlich als Sklaven grossstädtischen Zerstreuungtaumels; ebenso viele aber fühlen dumpf den Zusammenbruch und die wachsende Freudlosigkeit. In keiner Zeit noch war die Unzufriedenheit grösser und vergiftender. Gruppen und Grüppchen schliessen sich rücksichtslos zusammen um Sonderinteressen, im zähen Erhaltungskampfe stossen hart aufeinander Gewerbe, Stände, Völker, Rassen, Bekenntnisse und innerhalb jedes Verbandes wieder voll Eigensucht und Ehrgeiz die Einzelmenschen.“
So bringe man es fertig, stellt Klages kritisch resümierend fest, „das billionenfältige Leben aller Gestirne umzufälschen und herabzuwerten zum blossen Sockel des menschlichen Ichs.“ – Anlass zu diesem warnenden Statement war der Erste Freideutsche Jugendtag, der im Herbst 1913 – in Erinnerung an die Völkerschlacht zu Leipzig – auf dem Hohen Meissner bei Kassel stattfand. Dass Klages von dorther, über das Tausendjährige Reich hinweg, solche „Wahrheiten“ zu bieten hat, ist ihm bei all seinen intellektuellen und politischen Irrungen zugutezuhalten.

[Vgl. den kommentierten Nachdruck des Essays von Ludwig Klages, Mensch und Erde – ein Denkanstoss, hrsg. von Jan R. Weber, Berlin 2013.]

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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