Ferne Zeitgenossen (I)

Oskar Pastiors verhasste Träume

Für mich sind Träume eine unschätzbare, ja, unverzichtbare Bereicherung, aus der ich nicht zuletzt beim Schreiben … für das Schreiben immer wieder produktive Impulse beziehe, abgesehen davon, dass Traumzeit keineswegs nur verlorene Lebenszeit ist, sondern zugleich ein wundersamer, dabei ganz und gar realer Gewinn an Lebensraum, nicht euklidisch, versteht sich, aber als eine mögliche Welt mit eigenem Wirklichkeitsstatus.
Um so mehr war ich erstaunt, wenn nicht befremdet, als Oskar Pastior einst bei einem privaten Gespräch in seiner Berliner Wohnung auf einen Traumbericht (oder ein Traumgedicht?) von mir mit einem zornigen Ausbruch reagierte: Der Traum, das Träumen sei für ihn „das Letzte“, er hasse Träume, und er verachte alle Kunst, vorab die des Surrealismus, die mit Träumen arbeite und daraus einen „völlig unkünstlerischen“ Nutzen zu ziehen versuche.
Pastiors Ausbruch war so heftig, dass ich damals annahm, er hasse Träume nicht nur, er fürchte sie auch. Ich stellte ihm keine Fragen dazu, vermied es auch, von eigenen Träumen zu reden, lenkte das Gespräch statt dessen auf den Film … auf einige zu jener Zeit aktuelle Kinofilme, doch Pastior warf sofort ein, er sehe sich ausschliesslich TV-Krimis an: TV-Krimis mit ihren rational konstruierten Plots und ihrem stets absehbaren Finale seien für ihn „das Gegengift“ für seine Albträume. Und ganz unerwartet, um mir „zu zeigen, was das alles für ein Blödsinn ist“, erzählte er, was er „eben mal wieder vergangene Nacht“ geträumt habe:
Er sei mit M. F. am See spazieren gewesen, habe einen flachen Kiesel aufgehoben, um ihn mit einem kräftigen Schwung übers Wasser springen zu lassen, aber nein … aber ja, zuvor habe er mit einem dicken schwarzen Filzschreiber („oder war’s ein Stück Kreide?“) eine Botschaft auf den Kiesel gekritzelt („wie bei einer Flaschenpost!“), nämlich diese: „Schlag, mein Herz, du bist nicht Stein.“
Also was? Nichts als Blödsinn?
Erst viele Jahre danach wurde bekannt, dass Oskar Pastior unter dem Agentennamen „Stein“ als IM bei der rumänischen Securitate registriert war: Staatssicherheit!

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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