Ferne Zeitgenossen (XIII)

Ernst Jandls anhaltende Popularität beruht wesentlich auf einer fundamentalen Fehleinschätzung. Dem mehrheitlichen Publikum wie auch der Kritik gilt er als herausragender Repräsentant heiterer Wortkunst, als ebenso subtiler wie souveräner Sprachartist; er ist nach wie vor beliebt als unterhaltsamer Performer eigener Texte (auf CDs und Youtube) und wird gleichzeitig als strenger Experimentator geschätzt.
Dieses publikumsfreundliche Image wird indes rigoros dementiert durch das Bild (oder Bildnis), das der Autor von sich selbst in der Öffentlichkeit abgibt, sei es in der Verlagswerbung, sei es in Veranstaltungsprogrammen, in Magazinen oder auf Plakaten. Zu Hunderten ist Jandls unauffälliges Konterfei, das mit dem Berufsbild eines Lehrers oder eines Versicherungsvertreters eher übereinstimmt als mit dem eines Dichters, in den Medien präsent, und es kehrt unentwegt wieder in diversen Bildbiographien, die eigentlich – unabhängig von seinem Alter – immer nur einen Jandl zeigen: einen mürrischen, abweisenden, melancholischen, ja verzweifelten Menschen, dem kein Lachen gelingt und schon gar nicht ein Lächeln. Als einzige, freilich maskenhafte Variante dazu präsentiert Jandl auf manchen Photos (zumeist bei öffentlichen Lesungen) ein grotesk verzerrtes Gesicht, zeigt sich mit aufgerissenem Mund, vorstehenden Augen, exzentrischen Gesten.
In dieser Hinsicht bleibt Jandl einzig mit Buster Keaton vergleichbar, dem grossen Stummfilmkomiker mit dem todernsten Gesicht, der letztlich ebenfalls ein verkappter Tragiker und Tragöde war, als solcher aber zumeist nicht erkannt und ernstgenommen wurde. Es genügt, sich die Jandl’sche Sprechoper Aus der Fremde von 1980 vorzunehmen, um die tragische Grösse des Autors zu ermessen:
Wohl wird hier (in indirekter konjunktivischer Rede) wortreich von Fusspilz, lästigen Brosamen, Alkoholabhängigkeit, jeglichem „Alltagsdreck“ und sonstigem minderen Ungemach gesprochen, und was der Protagonist larmoyant von sich gibt, mag trivial oder lächerlich erscheinen, kann und sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mann „aus der Fremde“ mit unbedarfter Rhetorik seine tiefste Existenznot, seinen Selbsthass, seine Verlassenheit auf den Punkt zu bringen sucht – das Malaise des Menschseins schlechthin. Das ist keine Tragikomödie, es ist eine Tragödie von absurder Komik, ohne Trost und ohne Katastrophe, gang und gäbe, in der wirklichen Welt zumeist überspielt und verdrängt, la tragédie humaine in permanenter, endlos sich wiederholender, sich in sich selbst erschöpfender Erstaufführung.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00