Fortleben

„Sondern sie warteten still und
tief in Schlummer begraben …“
T. Lucretius Carus

I

Lukrez ist eben aufgewacht. Ist endlich da. Ist wach
wie alle Welt. Als wär er nie nicht tot gewesen
und hätte bloss im Schlaf geächzt. Jajaja! er liegt noch flach
doch in der Runde gibt’s kein Ding kein Lebewesen

das nicht wie er − Lukrez − schon wieder lacht
als wäre alles (auch die Wirklichkeit) ein schöner
böser Traum. Da! aufgewacht das Bett (die Pracht
zerwalkter Laken) und neu erwacht das Dröhnen

jener Eintagsfliege links im Bild. Erwacht die Wut
die wummernd über Leichen geht. Erwacht der
Schlüssel und − schon ist er unterwegs zum Schloss. (Gut
dass zu ihm so viele Türen passen. Macht er

doch nichts andres als die Sicherheit bewachen.)
Aufgewacht ist auch der Flur vom Kitzel des Frühlichts und
vom Staub der auf den spinnwebfeinen flachen
Strahlen lautlos tanzt. Erwacht ist − da! − der Hund

der sich wie schon vor einem halben Hundert Jahren
als His Master’s Voice gemächlich um das Loch
der Langspielplatte dreht derweil die wunderbaren
Variationen Goldbergs scheppernd unter noch

so leichten Händen sich verlaufen. Fragt sich Lukrez
(mit Blick hinab auf seine staubigen Sandalen),
was es denn auf sich hat mit Hier und Jetzt,
mit dem Erhabenen und dem Banalen.

Es wacht nun auch der Schreib- und Küchentisch.
Es wacht die Sanduhr und lauscht ihrem eignen Rieseln.
Es wacht der kalte Kerzendocht. Der Grätenrest vom Fisch.
Erwacht das leise Huschen wie von Wieseln.

Und aufgewacht schon − Band um Band − der Bücherschrank.
Das Brot und das Versprechen von gestern. Die Toga für heute.
Wach die Reue. Aufgewacht die Rache. Die Düfte. Der Gestank.
All das Wache − all das Aufgeweckte − wird dem Tag zur Beute

und selbst „… aus der Quelle der Freuden steigt dir ein Bitteres auf
das unter den Blumen dich ängstigt. So du den Tag verlebst
bis er ……………………………. bis du ……………………………
endlich ……………………………………………………bist.“

 

II

Erwachen ist vielleicht was Ähnliches wie Auferstehn:
Für eine halbe Ewigkeit nur Nacht vor Augen
und plötzlich alles hell und alles da − wie nie gesehn.
Das heisst ganz Auge sein und Bilder pauken

um überhaupt erst einmal zu begreifen was
hienieden Fakt ist und wo (ein wenig weiter oben)
die Lücke für die Lüge klafft und für den Hass.
Selbst was wahr ist ist im Jammertal erlogen

und Schönheit übertüncht als Dreckeffekt
das echte wie das falsche Glück. Das Wunderbare
bleibt hier ausgespart. Das einzig Wahre grenzt direkt
ans Unrecht. An Verrat. Gefälschte Schmuggelware

aus dem Niemandsland das früher Heimat war
und alte längst vergessne Wörter − mega super logo hyper −
bedeuten in diesen Niederungen alles und sogar
noch mehr als alles. Nämlich nichts. Darüber

ist sich Lukrez in seinem Wachzustand im klaren.
Mit der schweren Toga die um seine Fersen schwingt
weckt er nun auch den Feinstaub − lässt ihn fahren
als lockre Wolke die mit andern Wolken sich verlinkt.

Und überhaupt! Wieso Lukrez? Aus welcher Nacht …
… aus wessen Schlaf ist er so spät mit völlig neuen
Augen aufgewacht! Wem hat er seinen Traum vermacht?
Wird er das Ende der Geschichte doch vielleicht bereuen?

Die Legende nämlich in der Alten Welt gelebt zu haben!
Und überlebt zu haben im digitalen Netz von Hic-et-nunc.
…………………………………………………………… …………………………………………………………………… 

(2017-12-20; Joseph Brodsky in memoriam.)

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00