„Geruhsamkeit eines Selbstlauts“

Eins der wenigen, vielleicht das einzige Gedicht der Weltliteratur, dass aus nur einem Buchstaben – oder Laut – besteht, hat der russisch-tschuwaschische Autor Gennadij Ajgi verfasst; es liest sich, unterm Titel Geruhsamkeit eines Selbstlauts (1982), wie folgt:

Zu lesen – zu sehen − bekommt man einen freistehenden Kleinbuchstaben, es ist (im Russischen ebenso wie in lateinischen Schriften) der erste Buchstabe des Alphabets, ein Selbstlaut, der auch für den Zahlenwert 1 steht.
Markiert wird damit also ein Beginn: Auf „a“ kann „b“, auf 1 kann 2 folgen (oder ein anderes Schriftzeichen, jedenfalls − ein folgendes).
Mit „a“ setzt Ajgi ein Gedicht, das auch ein Gedichtanfang sein könnte.
Gleichzeitig evoziert „a“ in identischer Lautung den Ausruf „ah!“ oder, leicht abgewandelt, „ach!“.
Nimmt man „a“ (-a) als Wortendung, so verweist es, wie im Russischen üblich, auf das weibliche Geschlecht.
Als selbständiges Wort bedeutet „a“ im Russischen soviel wie „und“ oder „aber“.
Dieser eine Buchstabe eröffnet mithin als Schrift- und Lautzeichen diverse Bedeutungsdimensionen, die beim Lesen oder Hören leicht zu erschliessen sind.
Nicht zu vergessen: „Geruhsamkeit eines Selbstlauts“ wurde niedergeschrieben, als in der UdSSR noch die staatliche Zensurbehörde aktiv war. Unter diesem Gesichtspunkt liesse sich „a“ auch als Protestlaut verstehen – als unartikulierter Ausdruck für ein unterdrücktes Wort, ein verbotenes Gedicht.
Als Gedicht steht „a“ jedenfalls für die Möglichkeit eines Texts, vielleicht gar für die Notwendigkeit eines Texts, der erst noch zu schreiben wäre. Es ist, könnte man sagen, ein potentielles Gedicht, es könnte ein Gedicht im fruchtbaren Moment der Entstehung sein.
Ein Gedicht – noch vor dem Wort – als Versprechen.

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Dazu die erweiterte Variante Günter Eichs: „Ach und O sind zwei Gedichte, die jeder versteht. Und verhältnismäßig kurz, sie erfordern keine langjährige Übung im Lesen. Ob sie jedem gefallen, ist eine andere Frage, sie passen nicht, wenn man den schönen Götterfunken voraussetzt. Bravo oder bis bis wäre da viel besser, aber nicht so kurz. Jedenfalls führt Schwermut in die Anarchie, so einfach ist das. Entzückt verzehrt der Wolf sein Bein, das ihm ein Tellereisen abgerissen hat. Gesegnet sei der Tag, der mir Nahrung gab, ruft er. Der Wolf soll uns ein Beispiel sein. Eine tabula rasa ist besser als ein leerer Tisch, von der fabula rasa kam ich darauf, die Welt ist ein Druckfehler.“ (Beethoven, Wolf und Schubert)

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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