Hienieden

Wozu braucht man (als „Mensch“) den Trost und die Drohungen dieser oder jener Religion, die Gewissheit von Gut hier und Bös dort, das Versprechen von Heil und Hölle, da all dies doch täglich gegeben ist, beim Stadtrundgang, auf der Wanderung über Land, im Stau auf der Autobahn, in den TV-Nachrichten, im Internet – auf allen Kanälen also wahrzunehmen in Form von Katastrophen, Unglücksfällen, Terroranschlägen, Beziehungs- und Gesundheitskrisen, Intrigen, Mobbing, aber auch in der täglich beobachtbaren Normalität des Horrors, der Erleuchtung, der tiefsten Zernirschung und höchsten Seligkeit … Himmel und Hölle sind gleichermassen präsent und vor Ort, wir bewohnen die beiden Sphären seit jeher hienieden und projizieren sie dennoch ins Jenseits, als gäbe es dort oben noch mehr Herrlichkeit und dort unten noch mehr Schrecken.
Wozu also die Paradiese, die Höllen eines Dante, eines Milton, eines William Blake? Schöngeistiges Design! Immer kein Mysterium in den Lettern!
Alles da – zu sehen, zu fassen, zu haben.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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