Kleist, nach Montaigne 

Zum wievielten Mal nehme ich nun die Essays von Michel de Montaigne durch? Ich tu’s erneut, nachdem ich kürzlich in einem hiesigen Antiquariat – ohne zu suchen – eine Gesamtausgabe in altfranzösischer Originalfassung gefunden habe, Dünndruck in feinem, schon sichtlich abgenutztem Ledereinband, mit allen griechischen und lateinischen Zitaten im Text: Das Buch als solches, der Text in seiner einzigartigen haptischen Qualität, die minimale Schriftgrösse mit ihrem notwendigen Anspruch konzentrierter Lektüre – Gründe genug für eine nochmalige Annäherung an die Essays unter eben diesen besondern materiellen Voraussetzungen.
Vieles aus meinen früheren Lektüren habe ich zwischendurch wieder vergessen, auch jenes lehrhafte Kapitel (II, 2), in dem sich der nüchterne Montaigne als Verächter der Trunkenheit zu erkennen gibt und anhand zahlreicher Fallbeispiele vor deren fatalen Folgen warnt. Hätte ich nicht unlängst Heinrich von Kleists Marquise von O… wiedergelesen, wäre mir jene Episode vermutlich entgangen, die dem Autor von einer angesehenen Dame aus seinem Bekanntenkreis in Bordeaux rapportiert wurde – die wahre Geschichte einer jungen Frau von „züchtiger Reputation“, die einst, eingeschlafen nach einem Dorffest im Zustand des Rausches, von einem Unbekannten missbraucht und geschwängert worden sei, worauf sie am Eingang zur Kirche einen Aufruf ausgehängt habe mit dem Versprechen, ihrem Vergewaltiger vergeben und ihn heiraten zu wollen, falls er sich bei ihr melde.
Kleists Meistererzählung stimmt mit diesem diskreten Bericht in so vielen Einzelheiten überein, dass eigentlich von einer Nacherzählung gesprochen werden muss: Was bei Montaigne auf wenigen Zeilen anekdotenhaft abgehandelt wird, nimmt Kleist zum Anlass für eine hochdramatische, hysterisch übersteigerte, bis zur Unglaubwürdigkeit strapazierte Geschichte unter Einschluss zahlreicher moralischer und existentieller Momente, die das unheimliche Geschehen erhellen sollen. Dass die Frau in beiden Fällen als untadelige Witwe ausgewiesen ist, und nicht etwa, was doch weit näher läge und akuter wäre, als Jungfrau, ist ein starkes Indiz für die genetische Verbindung zwischen den Texten.
Was Montaigne als privaten Tratschbericht anführt, um nur einfach vor Trunkenheit zu warnen, führt Kleist als erhabene Individual- und Gesellschaftstragödie mit vielen Verwicklungen vor, die generell die unabwendbare und undurchschaubare Schicksalhaftigkeit der menschlichen Existenz dartun sollen. Im Ergebnis sind es dann doch, bei aller „Verwandtschaft“, zwei eigenständige Texte von ganz unterschiedlicher Struktur und mit ganz unterschiedlicher Intention. Aber so entsteht Literatur und wird Tradition gebildet. 

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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