Leben heisst im Sterben liegen

Den Kurzroman As I lay dying, erschienen 1930, hat William Faulkner nach eigenem Bekunden innert sechs Wochen in nächtlicher Schreibarbeit abgefasst, ohne danach auch bloss im Detail etwas zu ändern, zu verbessern daran. Was man hier zu lesen bekommt, ist eine geradezu apokalyptische Provinz- und Menschheitsgeschichte, erzählerisch rekapituliert durch die multiperspektivische Beschreibung eines absurden Sargtransports durch Hochwasser und Feuersbrunst, bewerkstelligt durch die vielköpfige Familie der Bundrens, die im Sarg ihre verwesende, penetrant stinkende Mutter auf deren Wunsch hin zu einem entlegenen Bestattungsort bugsieren.
Dass dem deutschsprachigen Leser noch immer die ungelenke Erstübersetzung des Romans von 1961 genügen muss, ist ein Indiz für das verhältnismässig geringe Interesse, das diesem Buch wie auch dessen Autor heute noch zukommt. Verwunderlich ist das allerdings nicht angesichts der zeitgenössischen Trendbelletristik, die formal weit hinter Faulkners künstlerischen Errungenschaften zurückbleibt, und schwerlich kann man sich inzwischen eine Leserschaft vorstellen, die mit einem komplexen Erzählwerk wie Als ich im Sterben lag zu Rande käme oder gar Spass daran fände.
Mit unvergleichlicher Intensität vergegenwärtigt Faulkner die gewalthaften Wechselbeziehungen zwischen Menschen und Menschen, Menschen und Tieren, Männer und Frauen in diesem schmalen Buch, das letztlich, bei all seiner vordergründigen Lebensnähe, die übergeordnete Frage nach dem Sinn der Welt, nach dem Tod, nach Gott zum Thema hat, für den Menschen, den Einzelnen aber keinerlei Trost bereithält: Eine Lektüre, nach der weiter nichts zu sagen ist, die jeden Kommentar, jede Widerrede überflüssig macht.
Der Sinnhorizont des kleinen Romans reicht weit über den nordamerikanischen Süden und die enge geistige Welt seiner Bewohner hinaus, weit hinaus über alles Provinzielle, Barbarische, Instinkthafte, das Faulkner auch sprachlich durchweg präsent hält, das aber in vermeintlich zivilisierteren grossstädtischen Lebenswelten gleichermassen seinen Ort und seine Fatalität hat. Manche Menschheitsbücher dieses Formats sind ja ebenfalls in der Provinz verortet … die Toten Seelen, die Bovary, der Oblomow, der Silas Marner, der Nachsommer, das Totenhaus, das Schloss, die Erzählwelten eines Joseph Roth, eines Bruno Schulz; doch bei kaum einem andern vergleichbaren Autor werden gesamtmenschheitliche Hoffnungen, Sehnsüchte, Träume, Ängste und Spekulationen mit soviel philosophischer Prägnanz und Tiefe zur Sprache gebracht wie bei William Faulkner in Als ich im Sterben lag. 

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Es bleibt die Nachdenklichkeit angesichts der Leerstelle, die der Mensch ist, die jeder Einzelne mit seiner Person konturiert, aber nie ausfüllt. Und noch einmal kommt die Erinnerung an Faulkners späteren Roman Licht im August (1932) auf – dort wird nicht ein Sarg durch die gleichermassen ärmliche und wilde Gegend gehievt, es ist ein ungeborenes Kind, dessen Mutter auf der Suche ist nach dessen Vater. Auch hier geht es, wiewohl in umgekehrter Perspektive, um Zeugung und Geburt auf den Tod hin, begleitet vom gewaltigen Stampfen der Gezeiten und Geschlechter.
Insgesamt bilden Licht im August und Als ich im Sterben lag eine originäre literarische Mythenschöpfung, vergleichbar nur mit dem Erzählwerk Andrej Platonows und wie dieses – ein dumpfer weltliterarischer Schlussakkord.

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Besser als die beste Zusammenfassung des Plots von Als ich im Sterben lag können, meine ich, ein paar von mir notierte Einzelsätze daraus eine Vorstellung vermitteln von William Faulkners Gedankenweite wie von der Besonderheit seiner Stilkunst. Die prägnanten Satzextrakte eröffnen, abgehoben von ihrem Bezugsrahmen, Dimensionen und Qualitäten, die bei linearem Durchlesen des Romans mehrheitlich verborgen bleiben. – Hier folgt die Auslese (nach der Übersetzung von Albert Hess und Peter Schünemann): 

Dann schaut er wieder auf den Fisch runter, der im Staub daliegt; mit dem Fuss dreht er ihn um, drückt eine Zehe in die Augenhöhle und quetscht das Auge aus.

Kann keinem nicht verdriesslicher sein als mir.

Es braucht zwei Menschen, um einen einzigen zu zeugen, und nur einen, um zu sterben.

War mir klar, dass nur ein vom Pech verfolgter Mann je einen Arzt brauchen würde, wenn gerade mal wieder ein Wirbelsturm bevorstand.

Verdammt will ich sein, wenn ich einsehe, warum ich nicht einfach türme.

Im Pferd läuft das Leben unter der Haut lang, unter meiner Hand, läuft in den Flecken lang, der Geruch steigt mir in die Nase, wo die Übelkeit zu heulen anfängt, das Heulen rauswürgt, und dann kann ich atmen und kotzen.

beide eins und doch keins von beiden, beide jedes von beiden und doch keins.

Das ist, weil ich allein bin.

Mein Blick gibt der toten Erde Gestalt und in weiterer Ferne formt die tote Luft die tote Erde in toter Dunkelheit.

Wenn Er die Eisenbahn machen kann, warum kann Er dann nicht alle in der Stadt machen wegen Mehl und Zucker und Kaffee: Möchtest du nicht lieber Bananen?

Darum bin ich nicht ist: Sein ist für eine Frau zuviel um’s zu hecken.

Ich wollt, ich hätte Zeit zu wünschen, ich hätte Zeit.

Er wird nicht schwimmen wie eine Säge, sagt Jewel.

Ich wusste, dass einer die Furcht erfunden hatte, der nie selbst furcht empfunden hatte, den Stolz einer, der nie stolz gewesen war.

Ich wusste, dass dieses Wort nicht besser als andere sei – nur eine Form, um ein Bedürfnis zu befriedigen; wenn es die rechte Zeit dafür war, würde man kein Wort brauchen, ebenso wenig für Stolz oder Furcht.

Meine Kinder waren von mir allein, von dem wilden Blut, das durch die Erde strömte, von mir und von allem Lebendigen, von keinem und von allen.

Und dann ist auch das Leben gar nicht dazu da, es den Leuten leicht zu machen; sonst hätten sie ja keinen Grund, gut zu sein und zu sterben.

Usf.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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