Minimalistische Grossschriftstellerei

Unter dem nicht eben attraktiven Titel Ein machtloser Psychagoge von 1940 rapportiert Alexander Kluge in ruhigem Plauderton eine ungeheuerliche Geschichte aus der Interferenzzone zwischen Dokument und Fiktion. Es handelt sich dabei um die schlichte Auserzählung von Thomas Manns Meisternovelle Der Tod in Venedig (1911), die hier − ohne Nennung des Autors − als quasihistorisches Dokument vorausgesetzt und als solches auch verwendet wird. Kluge schreibt daran weiter, als wollte er den Text faktographisch erweitern und ihn dem schlimmstmöglichen Finale zuführen: Der Tod des alternden, jeglicher Schönheit verfallenen Protagonisten Aschenbach, dem der homoerotische Zauber eines ihm unbekannten polnischen Jungen zur Offenbarung und gleichzeitig zum Fanal wird, markiert hier lediglich die Prämisse der Geschichte, die erst viele Jahre später im weit weniger friedlichen Tod eben jenes engelgleichen Jungen ihr Ende findet.
Aus dem „schönen Knaben vom Lido“ ist ein Mann besten Alters geworden, der nun − vermutlich ohne jede Erinnerung an seinen einstigen todestrunkenen Verehrer − im bereits verlorenen Krieg Polens gegen die deutsche Wehrmacht an der Ostfront zugang ist und dort schon bald von vorgeschickten Geheimdienstleuten der Roten Armee irrtümlich als antisowjetischer Partisan aufgegriffen und standrechtlich durch Nackenschuss exekutiert wird.
„Sein Gesicht war entstellt“, wie Kluge unaufgeregt konstatiert, „weil die Kugel, ungenau geschossen, Hinterkopf und Antlitz aufgerissen hatte.“ Die wohlhabende Mutter des Getöteten, die sich rechtzeitig via Bukarest und London nach New York hatte absetzen können, veranlasst von dort aus die Suche nach dem Sohn, dies in der Hoffnung, „wenigstens eine Totenmaske ihres Erstgeborenen“ bekommen zu können.
Nach aufwendigen Recherchen wird der Tote am Ort der Erschiessung identifiziert, doch eine Maske lässt sich von dem zerfetzten und verrotteten Gesicht des Offiziers nicht mehr abnehmen. Der beauftragte Maskenbildner kehrt vom Fundort der Leiche „in seine Stadt“ zurück. Statt seine Auftraggeberin über die wahre Sachlage zu informieren, stellt er vom Gesicht eines Zeitgenossen einen Gipsabguss her, den er nachträglich gezielt verunstaltet, damit es einerseits „authentisch aussähe“ und anderseits von der Mutter des Toten nicht als Fälschung erkannt werden könne.
Der hier knapp resümierte Plot wäre durchaus für einen Epochenroman oder einen Historienfilm verwertbar gewesen, doch Alexander Kluge, der solche Geschichten zu Hunderten vorgelegt, wenn auch nicht stets gleichermassen überzeugend ausgearbeitet hat, zieht der Entfaltung narrativer Stoffe eher deren punktuelle Skizzierung vor, mit dem Ziel, auf kleinstem Raum einen Handlungszusammenhang so abzustecken, dass seine dramaturgische Grundstruktur und die Konstellation der handelnden Personen deutlich hervortreten, dabei aber manche Leerstellen offen bleiben.
Konzeptuell erinnert der Text (wie andere Kurzprosatexte Kluges auch) an ein skizzenhaftes Drehbuch, das ausser den massgeblichen Handlungskoordinaten stets auch ein paar Besonderheiten festhält, etwa Gegenstände, Gesten, Wetterbedingungen, Zufalls-, Schicksalsbegegnungen u.a.m., welche das Geschehen punktuell oder leitmotivisch akzentuieren. Fast durchweg verzichtet Kluge jedoch auf Wertungen, Kommentare, Einordnungen, Verweise zu Handen des Lesers. Psychologische, moralische, ideologische Zusammenhänge oder Zugehörigkeiten werden nicht explizit gemacht, müssen erschlossen oder eigens erstellt werden. Faktographie und Fiktion, aber auch Lebens- und Epochengeschichte, Wirklichkeits- und Möglichkeitsform gehen unterschiedslos ineinander auf.
Was an der ungemein starken, absolut kohärenten Geschichte des „schönen Knaben vom Lido“ beziehungsweise des „machtlosen Psychagogen von 1940“ dokumentarisch und was erfunden ist, lässt sich nicht ausmachen, hat aber ohnehin keine Bedeutung für die Lektüre und das Verständnis des Texts. Überprüfbar ist einzig der anfängliche Rückgriff auf Thomas Manns Novelle (wenngleich sie nicht als historisches, bloss als literarhistorisches Dokument gelten kann) − der Rückgriff mithin auf Venedig (im Vorfeld des Ersten Weltkriegs) als Schauplatz der unausgelebten Liebesbeziehung zwischen dem deutschen Touristen und dem polnischen Epheben. Der ganze Rest und damit der Grossteil des Berichts verschliesst sich solcher Überprüfung, ist jedoch rhetorisch so neutral, so emotionslos gehalten, dass man einen Faktencheck gar nicht erst für opportun hält: Die Geschichte liest sich, ungeachtet ihrer Monstrosität, wie eine streng auf Objektivität bedachte Reportage von der polnisch-russischen Front zu Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Kluges Kunstgriff besteht − hier wie anderswo − darin, frei gewähltes (fiktives oder historisch beglaubigtes) Personal in frei gewählte (literarische oder geschichtliche) Zusammenhänge einzuspannen, um solcherart individuelles Erleben und zeitgeschichtliches Geschehen beispielhaft zu synthetisieren. Dieser spezielle Zugriff auf Stoffe und Protagonisten (und nicht die Protagonisten oder die Stoffe selbst) machen hier die Kunst des Erzählens aus.
Alexander Kluge liefert mit Geschichten wie Ein machtloser Psychagoge von 1940 (oder schon früher mit seinen Kurztexten zu Heidegger auf der Krim) eine neue, durch und durch zeitgemässe Form des Romans, die sich − ähnlich wie das Gedicht − auf einer halben, einer Dreiviertelseite als ein ganzheitliches Werk behauptet und bei fast jeder Gelegenheit (in der Strassenbahn, im Wartezimmer, bei Rotlicht im Auto usf.) vollumfänglich gelesen werden kann: Mikroromane, hochkomprimiert, perfekt portioniert als ein Konzentrat mit zugleich berauschender und ernüchternder Wirkung. − Da Kluge seine „Basisgeschichten“ vorzugsweise zu schweren Wälzern bündelt (wie z. B. in der zweibändigen Chronik der Gefühle oder in der rund 1000-seitigen Lücke, die der Teufel lässt), geht ihre intensive Wirkkraft bisweilen in der geballten Stoff- und Ideenfülle verloren. Um so mehr lobt man sich denn verstreute Einzeldrucke von der lakonischen Art jenes „Machtlosen Psychagogen“, die der Autor beiläufig in den Marginalien eines Magazins erscheinen lässt.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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