Nachgelesen, nachzutragen

Sollte, wollte ich mein Buch über Dostojewskij und das Judentum (erschienen im 100. Todesjahr des Autors, 1981) noch einmal neu herausbringen, müsste ich eine Vielzahl von Untersuchungen aufarbeiten, die inzwischen zu dieser Thematik und generell zur zaristischen Judenpolitik, zum russischen Antisemitismus, zu jüdischen Motiven in der russischen und sowjetischen Literatur vorgelegt worden sind.
Einiges wäre zu ergänzen, kaum etwas zu korrigieren. Ich würde weiterhin an meinen beiden Hauptthesen festhalten. Einerseits daran, dass Dostojewskijs bis heute weithin behaupteter „Antisemitismus“ zahlreiche Ambivalenzen aufweist, und mehr als dies − dass er immer wieder, explizit oder implizit, in sein Gegenteil umschlägt und ex negativo sogar philosemitische Züge annehmen kann: Der dunkle Jude als virtuelle Lichtgestalt und Kippfigur des ebenso dunklen, abgründig sündhaften, zutiefst resignierten Russen.
Zweitens sehe ich die russische Judenfrage am Leitfaden von Dostojewskijs literarischen und publizistischen Texten primär geprägt durch die Konkurrenz zweier Messianismen, nämlich des Glaubens an die Auserwähltheit des jeweils eigenen „Volks“, das heisst an den „allmenschlichen“ Triumph des Russentums einerseits, an die Erlösung des Judentums durch den verheissenen Messias anderseits.
Liest man unter dieser ambivalenten Perspektive den umfangreichen späten Briefwechsel, den Dostojewskij in seinem öffentlichen Tagebuch eines Schriftstellers mit dem jüdischen Publizisten Arkadij (Abram) Kowner geführt hat, wird deutlich, wie weitgehend hier ostentative Gehässigkeit, Verachtung und Abwehr durchwirkt sind von neidvoller Bewunderung − Dostojewskij geht darin so weit, dass er seinem politisch „progressiven“, religiös desinteressierten Korrespondenten einen Mangel an jüdischer Glaubenskraft und Zukunftshoffnung zum Vorwurf macht.
Solche Glaubenskraft und Zukunftshoffnung hatte er einst in seinen autobiographisch fundierten Aufzeichnungen aus dem Totenhaus (1861/1862) an der tragikomischen Figur des jüdischen Zwangsarbeiters Issaj Bumstein exemplifiziert: Der ehemalige Juwelier und Wucherer Bumstein, ein verurteilter Mörder, wird vom Autor zwar mit allen denkbaren antisemitischen Klischees ausgestattet, erwächst aber gleichwohl, gewollt oder ungewollt, zu einem religiösen Genius und überstrahlt als solcher seine glaubensschwachen russischen Mitgefangenen:
Obwohl Dostojewskij den lispelnden Singsang und die Körperverrenkungen des Juden beim inbrünstigen Gebet erbarmungslos karikiert, lässt er keinen Zweifel daran aufkommen, dass Bumstein gerade durch diese bekenntnishafte Inbrunst − und in ihr − eine Gottesnähe erreicht, die den meisten orthodoxen Russen verschlossen bleibt. Dostojewskijs Antisemitismus erweist sich hier als eine mimetische Verdrängungsgeste gegenüber einem fremden Idealbild, das die eigenen (idealen, aber unerreichbaren) Vorstellungen repräsentiert, gleichzeitig mit ihnen rivalisiert und deshalb zum Gegenstand von wütendem Neid wird.
Dazu wäre noch einiges zu sagen.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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