Schreiblärm

 Die Reminiszenz hat sich längst zur Anekdote verdichtet – eine Schriftstellerin sitzt wie gelähmt vor ihrer Schreibmaschine, müht sich ebenso verzweifelt wie vergeblich mit ihrer Schreibblockade ab, derweil im Stockwerk über ihr der gleichermassen geliebte und gehasste Kollege souverän klappernd in die Tasten greift, Seite um Seite niederschreibt, ohne auch nur seinen Stuhl zu verrücken.
Das Klappern, Ratschen und Klingeln der Schreibmaschine gehörte einst zum alltäglichen Arbeitssound von Sekretärinnen und Literaten. Doch im Liebesverhältnis wie in der mehrjährigen gemeinsamen Wohnsituation von Max Frisch und Ingeborg Bachmann in den römischen Jahren um 1960 muss das harmlose mechanische Geräusch einen eigenen Drive angenommen haben, den die Bachmann als dämonische existentielle Bedrohung empfand. Jedenfalls bewirkte bei ihr die Lebenskrise eine abgründige Schreibkrise, derweil Frisch – der sich im Stockwerk über ihr eingerichtet hatte und also von oben nach unten via seine Schreibmaschine auf sie einschlug − aus dem Zerwürfnis neue Schreibenergie gewann.
„Ingeborg Bachmann“, so kolportiert es die vielfach bestätigte Anekdote, „machte das Geklappere des Geliebten halb wahnsinnig – eben, weil ihr selber nix Kreatives mehr einfiel. Und so flüchtete sie sich in Coiffeursalons, wo sie sich die Haare machen liess und in Illustrierten zu blättern pflegte.“ Max Frischs Tochter Ursula liefert dazu eine aufschlussreiche Fussnote aus eigener frühkindlicher Erfahrung: „In der Mansarde das Klappern der Schreibmaschine – nicht dass ich unten im Garten beim Spielen besonders darauf geachtet hätte, aber das Geklapper bedeutete: er ist da. Und gleichzeitig hiess es, dass er unerreichbar weit weg ist.“ − Er ist da, das will heissen, er sitzt tippend an seiner Schreibmaschine, heisst aber auch umgekehrt: Wenn er tippend an der Schreibmaschine sitzt, ist er gerade nicht da, weder für die Frau erreichbar, noch für das Kind oder den Freund.
Die ambivalente Anekdote über Max Frisch und Ingeborg Bachmann wie auch die schmerzliche Reminiszenz der Schriftstellertochter sind nach wie vor gleichermassen bedenkenswert. Zu bedenken wäre jedoch ausserdem, dass das lästige Klappern der Schreibmaschine inzwischen verstummt ist, abgelöst vom nahezu lautlosen Klacken der heute gebräuchlichen digitalen Tastaturen. Die Schreibbewegung ist kein akustischer Störfaktor mehr, als sinnliche Erfahrung bleibt sie auf den Sensordruck reduziert. Gleichwohl steht sie nach wie vor in ständiger Konkurrenz mit den Regungen und Bedürfnissen des textexternen Lebens.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00