Sich schreiben lassen

Bei der Durchsicht meiner Skripten stelle ich fest, dass per 2016 unter meiner Hand kein einziges Gedicht entstanden und fertiggeworden ist, und seither sind nur ganz wenige hinzugekommen.
Desolates Fazit.
Zwar ist manches andere gelungen (Essayistisches, Übersetzerisches), aber das Gedicht, das Gedichteschreiben ist eben doch das Einzige, was ich wirklich kann und für das ich, eben deshalb, eine nicht abzuweisende Verantwortung spüre.
Können! Wirklich?
Ich meine damit: Keins meiner Gedichte könnte jemand anderes geschrieben haben, jedes steht gleichermassen für sich und für mich. Durch mich – meine Schreibbewegung, meine sprachliche Ausdruckswut, mein Klang- und Bildbegehren – gewinnt das Gedicht seine unverwechselbare äussere Form, aber auch, durch sie bedingt, seinen innern Hallraum, jene Leere, die dem Leser seine jeweils eigene Sinnbildung ermöglicht.
Nur beim Gedicht bin ich unzweideutig als Verfasser namhaft zu machen, obwohl ich gerade in diesem Fall am wenigsten von mir selbst investiere, nichts Biographisches, Persönliches einbringe; auf ein dichterisches Ich verzichte ich konsequent.
Natürlich gebe ich mich auch bei andern Textsorten – Aufsatz, Essay, Rezension – auktorial zu erkennen, etwa durch die Wahl meiner Themen, durch meine Lesarten und Wertungen, doch bleibt mir dabei immer klar (und häufig ist es ja tatsächlich so), dass zum selben Thema, im gleichen Umfang und mit ähnlichem Ergebnis auch sonst jemand hätte schreiben können (vielleicht geschrieben hat beziehungsweise schreiben wird).
Nicht so beim Gedicht, das sich aus einer intransitiven Schreibweise ergibt, mithin keinem vorgebenen Thema, keiner vorgefassten Aussage genügen oder dienen muss; das vielmehr, seiner einzigartigen Qualität als Primärliteratur entsprechend, sich selbst in seiner sprachlichen Verfasstheit herausstellt.
Um transitiv (also über etwas oder auf etwas hin) zu schreiben, braucht es Wissen, Kompetenz, Mitteilungsbedürfnis usf., nicht aber den unverwechselbaren Stil, den unverwechselbaren Charakter, der den Menschen als Individuum auszeichnet, und mehr als das: der ihn auch weitgehend ausmacht − so wie jedes meiner Gedichte mich.
Ausschlaggebend ist nicht die erste Person der Einzahl, die das Sagen hätte, vielmehr jener Sprachverwegene, der sich schreiben lässt.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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