Sich selbst wiederlesen?

In seinem dreissigsten Lebensjahr, 1828, notiert Giacomo Leopardi − aufgeräumt, fast schon hochgemut −, wie sehr er sich auf das Greisenalter freue, darauf, aus seinem frühen dichterischen Werk noch einmal das „Feuer“ der Jugend zu verspüren, sich daran zu „erwärmen“, sich daran zu „ergötzen“. Unumwunden gibt Leopardi zu, dass er ohnehin eigene Verse weit lieber lese als „die Gedichte anderer“, und recht pathetisch vergleicht er sein Werk mit einem Reliquienschrein oder auch mit einer Schatzkammer.
Der grosse Melancholiker scheint Trost und Auftrieb zu gewinnen (vielleicht auch nur gewinnen zu wollen) beim Wiederlesen eigener Texte „wie beim Betrachten der Schönheiten und Vorzüge des eigenen Kindes“, in der etwas forcierten Überzeugung, „etwas Schönes auf der Welt gemacht zu haben“. Und selbstgewiss fügt er hinzu: „… mögen andere es als schön erkennen oder nicht.“
Dass ein notorischer Zweifler und Skeptiker wie Leopardi soviel Zuversicht aufbringt; dass er das, was er selbst gemacht, selbst in die Welt gebracht hat, so hoch zu schätzen weiss und es jedem Fremdurteil entzieht, entspricht dem romantischen Selbstverständnis eines Künstlers, für den das Schaffen weit mehr ist als technisches Können und Zurichten, nämlich ein quasigöttlicher Schöpfungsakt, der als originale Leistung über jegliche Kritik erhaben sei.
Mir selbst ist solches Begehren und Geniessen bei der Konfrontation mit eigenen Texten völlig fremd. Nie käme ich auf den Gedanken, mich an deren Schönheit, an deren Ursprünglichkeit und Einmaligkeit zu „ergötzen“ oder gar zu „erwärmen“. Im Gegenteil. Selbstgeschriebenes wiederzulesen, ist mir durchweg peinlich, ja zuwider und … aber mehr als das: Selbstgeschriebenes im Nachgang (etwa beim Korrigieren, später in der Druckfassung) überhaupt als mein Eigenes zu erkennen, fällt mir meist schon nach kurzer Zeit auffallend schwer, während mir fremde Texte nicht selten so vertraut vorkommen, als wären sie unter meiner Hand entstanden.
Meine Scheu, fast schon Abscheu vor der eigenen Produktion wäre als eine spezifische Art von Psychopathologie vermutlich leicht zu erklären. Ich selbst führe sie eher auf meine wohl längst verinnerlichte Überzeugung zurück, dass es den Autor als souveränen Schöpfer von Originalwerken (wie Giacomo Leopardi und seinesgleichen es für sich in Anspruch nehmen und zu praktizieren glauben) nicht gibt, nie gegeben hat; dass Autorschaft, weit weniger anspruchsvoll, lediglich als Beihilfe zur Werkentstehung beitragen kann, nicht also durch ein erst- und einmaliges Schöpferwort, sondern einzig durch Akkumulation, Disposition, Verknüpfung, Arrangement von immer schon vorgegebenen Materialien, vorgegeben durch Sprache und literarische Überlieferung, durch Erfahrung und Erinnerung, Materialien disparater Art und Qualität mithin, aus denen das Werk unter Schriftführung des Dichters, des Erzählers sich ergibt und eben keineswegs gänzlich neu geschaffen wird.
„Was ich geschrieben habe, habe ich nicht.“ So lautete das Motto, von mir selbst formuliert, zu einem meiner Gedichtbücher, und in diesem Verständnis mag ich mich mit den von mir abgefassten Texten nicht identifizieren, halte ich sie nicht für mein geistiges Eigentum, überlasse ich sie lieber dem unbekannten Leser, als dass ich sie mir selbst zuschreibe. Von daher die Entfremdung, die mir meine eigenen Bücher entrückt und die es mir so leicht macht, mir die Bücher andrer Autoren − über Kontinente und Epochen hinweg − anzueignen.
Was aber hat es zu bedeuten, dass Leopardi die erwähnte Notiz zur Feier seiner Autorschaft auf den „letzten Freitag des Karnevals“ datiert? − Ironisierung der Autorschaft als Maskenspiel? Selbstgenuss als Selbsttäuschung? Geschönte Bilanz eines tragischen Dichterlebens?

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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