Sprachvertrauen

Martin Walser, der heitere Neunziger, hat sich vom einstmals „engagierten“ Literaten und KP-Ideologen zu einem wortverliebten Tagträumer gewandelt. Aus dem Sprachvergessenen ist ein Sprachbesessener geworden. In einem TV-Interview zu seinem jüngsten – runden! − Geburtstag berichtet er, luzid und überschwänglich zugleich, vom späten Glück der Inspiration, die nun seine höchst produktive Schreibarbeit bestimme. Worte, Sätze fielen ihm, sagt er, in Überfülle zu, lenkten seine Hand, sein Denken, seine Einbildungskraft.
Walser zitiert mit sichtlichem Hochgefühl ein paar frische Bonmots, wohlformulierte Einfälle, kühne, paradoxal in sich gekehrte Metaphern, die er nach eigenem Bekunden für grossartig und einzigartig hält, für die er aber, als Autor, letztlich nicht zuständig sei – Metaphern wie (sinngemäss) diese: „Ich bin die Asche einer Glut, die ich nie gewesen bin.“ Kommentar: „Ich kann doch nichts dafür, ich versteh’s ja auch nicht, das kommt einfach über mich, das macht die Sprache von sich aus.“
Da unterstellt sich einer, weise geworden, dem Regime der Sprache, lässt sich von ihr beherrschen, statt sie – zu welchem Zweck und Nutzen, zu wessen Belehrung oder Unterhaltung auch immer – beherrschen zu wollen: So alt nun, und allzeit bereit, den Einfall (der ja auch bloss ein Zufall sein könnte) walten zu lassen!
Das Abenteuer erfordert kein Projekt; es findet unbedacht statt. Walsers Sprachvertrauen erweist sich als eine Art von Gottvertrauen.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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