Zeitstil und … oder Personalstil

Fortschritt, so vermute und fürchte ich, ist, zumindest in kulturellen Dingen, einzig noch durch Rückschritte zu verwirklichen – Modernisierung (gewissermassen) durch Archaisierung. Autoren wie Faulkner, Camus, Char, Hemingway, Beckett, Nabokov, auch Solshenizyn oder Heiner Müller haben – vor einem halben Jahrhundert noch – bei all ihrer Unterschiedlichkeit einen jeweils individuellen Stil entwickelt, der sich auf jeder Seite, in jeder Strophe ihres Werks unverkennbar manifestiert.
Damals konnte man für stilistische Unverkennbarkeit (schlichter gesagt: für formale Originalität) von der Kritik noch gelobt, von einem breiteren Publikum geschätzt werden. Heute sind Unverkennbarkeit, Originalität in jenem Verständnis nicht mehr gefragt. Gefragt ist – nicht anders als beim Gerätedesign vom Sneaker bis zum Haarfön, zum Rasenmäher, zur Kaffeemaschine – die gleichmacherische Stromlinienform, die weitgehend ungebrochen die Ding- und Alltagswelt durchzieht, ohne merklichen Widerstand zu bieten oder zu schaffen.
Das Risiko des Aneckens und Hängenbleibens wird minimiert, Schnittigkeit und Schlüpfigkeit sind die bevorzugten Formqualitäten. Die generelle Akzeptanz der sogenannten politischen Korrektheit macht klar, dass die Stromlinienform längst auch den gewöhnlichen Sprachgebrauch, wenn nicht gar das Denken – noch vor dem artikulierten Wort − beherrscht. Stilistische Eigenart gilt demgegenüber, fast schon grundsätzlich, als sperrig, schwierig, womöglich gar als provokant: als eine Schwierigkeit, die heutige Autoren heutigen Lesern nach übereinstimmendem Dafürhalten der wortführenden Kritik tunlichst ersparen sollten.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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