2005-10-08

In einem roten Volvo vom Jahrgang  1984 bin ich mit einem unbekannten Fahrer als Anhalter unterwegs; auf vereister Piste rutschen wir in sanftem Schleuderkurs talwärts, bis uns von rechts ein andres Auto in die Quere fährt, wir ausweichen müssen und nun haltlos und rasch schneller werdend ins Unversicherbare gleiten; seitlich driften wir im knuspernden Schnee immer weiter in die Tiefe, bis wir von der Geschwindigkeit getragen in die harte Luft abheben; jetzt, bei gleissender Sonne von ungeheuer oben einschwebend, landen wir in einer mediterranen, vermutlich nordafrikanischen Marktstadt; viele schwarz gekleidete Menschen erwarten uns hier ganz ohne Interesse, sie ragen reglos wie Statuen in dieser mörderischen Hitze, vier schwere Männer mit Hundemasken kommen mit gereckten, im weissen Mittagslicht funkelnden Armeepistolen auf uns zu – aber was haben wir anzubieten? was zu besprechen? wer sind «wir» eigentlich? in wessen Namen sollten wir verhandeln? he, erkennst du mich denn nicht! fragt nun fröhlich mein Fahrer – ist es Wildermuth oder doch eher die als Wüstenvater verkleidete Eberhardt? – und weist mit einer eleganten, von der Schulter bis in die Fingerspitzen sich fortpflanzenden Geste auf die unabsehbar lange Reihe der Vorratsschränke; ich solle den meinen nun endlich räumen, gibt sie mir, schon weniger freundlich, zu verstehn, und ich öffne ihn nun gleich mit einem leichten Sensordruck; der Schrank ist voll von Gefriernahrung und Akten, im Fussfach liegt ein altes, von watteartigem Schimmel überzognes Notebook, in dem kleinen eingebauten Safe steckt ein Schlüssel mit leuchtend roter Trauerschleife, auf der in Grossbuchstaben das Wort – oder der Name – VATER steht; und ich denke mir sogleich, dass ich den Zugang zum Safe jetzt, da der Vater tot ist, als EXIT nutzen könnte, um drüben meinen Bruder und Mutters Sohn zu treffen; mit fliegenden Mantelschössen eilt Isabelle durch den Korridor zum Ausgang, derweil ich hier, auf der heruntergeklappten Schreibfläche des Panzerschranks, ein paar Sätze an Wildermuth kritzle; statt «Lieber…» schreibe ich in mehreren Anläufen immer wieder «Lerbei» oder «Leiber…» oder «Lieiber…»; es will nicht gelingen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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