2007-07-18

Seit kurzem lebe ich als Stipendiat in einer mir fremden Grossstadt, habe mich noch nicht ganz eingelebt, die Orientierung fällt schwer, da ich die hiesige Sprache nicht verstehe und vor Ort auch keine Bekannten habe; mit dem Stipendium verbunden ist das Erlernen dieser Sprache, aber gleichzeitig sollte ich auch einen hier vor Zeiten ausgestorbnen Dialekt neu entdecken, von dem es keinerlei Zeugnisse gibt; fühle mich frisch und jung, erkunde mit studentischem Interesse die kulissenhafte Stadt, die mich bald an Tokyo, bald an Wien erinnert und deren Merkwürdigkeit darin besteht, dass hier immer Mittag ist, ein senkrecht von oben herabprügelndes gleichförmiges Licht, das keine Schatten wirft; ich lasse mich von den wogenden Menschenmassen mitnehmen, schlendere durch Supermärkte, Bahnhöfe, Kathedralen, Fabrikhallen, halb verfallene Strassenzüge, über weite Plätze voller Imbissbuden mit fremdartigen Angeboten; niemand scheint hier einem Beruf nachzugehn, ein Sonntag folgt auf den andern; ich bin früh dran, verabredet mit Thea, weiss aber ihre Adresse nicht, gehe los, versuche mich an alle ihre frühern Wohnorte zu erinnern, es kommt mir vor, als käme ich beim Suchen immer wieder in ihre Nähe, dann tut sich aber jedesmal eine andre Strasse auf; und wieder ist mir alles total fremd, manchmal denke ich Scheisse! wozu brauch ich dieses Stipendium, hätte ich doch lieber zu Hause (aber wo?) an meinem Buch (aber an welchem?) weitergearbeitet usf.; doch jetzt gelange ich in einen Stadtteil mit rasterartig angelegten, meist kurzen, immer rechtwinklig zueinander stehenden schattigen Strassen; ein Schlafquartier! denke ich und lese plötzlich auf der Strassentafel «Zum Gutzschiner», also bin ich endlich angekommen; aus der Ferne höre ich Theas Stimme, sie scheint Regie zu führen, Anweisungen zu geben; ich folge dem lauter werdenden Stimmengewirr, halte an vor einem winzigen mit Schotter vollgeschütteten Vorgärtchen, die Tür steht offen; ich trete ein, betrete ein kleines dunkles Zimmer voller Gerümpel, ein paar Leute sind da, zwei mir unbekannte orientalisch aussehende junge Frauen und der grimmige Pretzell, mit dem Thea jetzt zusammen ist; und tatsächlich beachtet sie mich nun kaum noch, die Leute scheinen gerade Pause zu machen; Thea gibt weiter Anweisungen, ich begreife, dass diese Stadt ihre Bühne ist, dass sie in diesen Kulissen ihr Welttheater aufführt; sie muss schon weiter, hat anderswo anderes zu tun; ich erkundige mich nach dem Klo, und aber kaum bin ich drin, öffnet jemand ohne anzuklopfen die Tür, ein riesiger Mensch, der mit seinem leicht zur Seite geknickten grauen Schädel die Decke berührt und einen engen Uniformmantel mit 23 Knöpfen trägt, schaut mich von weit oben streng an und gibt mir mit einer knappen Kopfbewegung zu verstehn, dass ich abhauen soll; also hau ich ab, Thea ist ja auch schon fort, Pretzell beschäftigt sich mit Oskars Fahnen, und ohne den Blick zu heben, sagt er, bevor ich ganz wirklich weg bin, wie beschwerlich «das alles hier» sei, während die beiden Frauen geil in ihren vielen Röcken wühlen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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