2007-11-11

Bin eben angekommen in dieser mir fremden Grossstadt, die von der umliegenden dörflichen Provinz durchwachsen ist oder die, umgekehrt, weit in die Provinz vorgedrungen ist; zwischen Hochhausüberbauungen gibt es Gärten und Landwirtschaftsbetriebe, die Stadt scheint in schroff hügeligem Gelände zu liegen, Strassenverkehr fehlt, nur altmodische Trambahnen kurven durch das Gelände; in einer weitläufigen lichtdurchfluteten Halle bewege ich mich unter lauter fremden Leuten, die alle so aussehn, als könnten sie ehemalige Arbeitskollegen oder entfernte Verwandte sein; es herrscht ein reges Kommen und Gehen, ein paar dieser Leute finden zwanglos zusammen, bleiben kurz aneinander hängen, man kennt sich, erkennt sich aber nicht, lässt gleich wieder ab voneinander; ich lasse mich von der Plaudergruppe, zu der auch eine Frau in klappernden Stöckelschuhen und mit vorstehendem Hasengebiss gehört, ungewollt involvieren; es wird entschieden, dass man Horst in seiner neuen Wohnung besuchen, ihn überraschen soll, aber niemand kennt seine Adresse; in lockerer Formation geht’s nun zu Fuss bergan, ich wende mich vor dem Überqueren der Strasse kurz um und sehe in diesem Augenblick das blaue Ortsschild – «in der Kerbel» oder so ähnlich und tatsächlich mit dem klein geschriebnen i –; also sind wir bereits angekommen, das Haus, ein Doppelhaus, liegt im spitzen Winkel zweier stark ansteigenden Strassen, die von lärmigem Autoverkehr erfüllt sind; puh, wie kann der Horst nur an so einem Ort wohnen, denke ich, der ist doch ein passionierter Leser, der hält das doch nicht aus usf.; jetzt stehn wir in einem Vorhof, der mit Lärm- und Sichtschutzwänden versehn ist, aus unsrer Gruppe löst sich ein Mann mittleren Alters, er gibt sich als Hausherr zu erkennen, trägt einen graugrünen Regenmantel, steht verloren im Entrée seines Hauses, bis nun die Frau mit den Stöckelschuhen aus dem Hintergrund auftritt und uns zu einer Besichtigung einlädt; während sie freundlich mit uns Hergelaufnen plaudert, bekommt sie einen Handyanruf, sie entschuldigt sich, nimmt den Anruf entgegen, ohne sich abzuwenden, hört eine Weile hin, wird plötzlich ganz ernst, klappt das Handy nach kurzer Konversation zu und teilt uns mit, dass der Armin schwer erkrankt sei und sofort ins Spital eingeliefert werden müsse; es erweist sich, dass Armin in einem Hinterzimmer liegt, wir sollen aber alle gleich runter ins Spital, um ihm einen Krankenbesuch abzustatten; wir werden durch einen langen Korridor voller Stöhnen und Klagen in das Sterbezimmer geführt, das bereits überbesetzt ist von Personal und Besuchern; in einem der zwei Betten erkenne ich zwischen vielen gebückten und hin und her sich wiegenden Hinterköpfen Armin, er liegt auf dem Bauch, sein Kopf mit dem strähnigen Haarkranz ist schräg von hinten zu sehn, er wälzt sich ruhlos hin und her; bis ihn eine Pflegerin an den Ohren packt, ihn festhält und uns die frische Narbe zeigt, diese rosagraue kreisförmige Stelle, da, rechts über der Stirn; der Schädelknochen unter der Haut fehlt an dieser Stelle, das Gehirn scheint zu pulsieren, ich fahre mit dem Mittelfinger der rechten Hand langsam über die runde, noch weiche und leicht blutende Narbe, während die Schwester Armins Riesenkopf weiterhin festhält; aber eigentlich sollten wir doch längst im Konzertsaal sein, das Publikum beginnt den Saal zu füllen, der Dirigent geht ungeduldig auf und ab, er braucht mich für eine Nebenrolle als Sänger und geht davon aus, dass ich den Part studiert habe; ich kann mich aber nicht an den Text und nur ganz vage an die Melodie erinnern, suche nun rasch noch die Toilette auf, stosse dabei auf eine sehr schmale gepolsterte Tür, die aber geschlossen ist; doch gleich kommt ein junger Mann heraus, er lacht mich freundlich an, den Toilettenraum füllt ein unverhältnismässig massiver Heizkörper fast zur Gänze aus; ich dränge mich mit der rechten Schulter voran durch die rote Plastiktür und sehe, wie die Tür sich hinter mir automatisch schliesst; ich werde, das spüre ich, dringend im Saal erwartet, die Musik spielt bereits, mein Auftritt steht unmittelbar bevor; vergeblich versuche ich mir meinen Text in Erinnerung zu rufen, während – ich kann’s auf einem kleinen Monitor sehn, der wie eine Ikone überm Klo hängt – meine frühern Begleiter in Strassenanzügen bereits auf der Bühne stehn und kleinlaut ihre Rollen heruntersingen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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