Der da!

Nur weil ich den andern missdeute, kann er etwas bedeuten für mich; nur weil er nicht nur ein andres Ich, sondern ganz anders ist als ich, ist eine Beziehung zu ihm möglich, die ihn nicht zum immergleichen Spiegelbild meiner selbst verzerrt, ihn mir also ähnlich macht.
Dies bestätigt und unterstreicht meine Forderung nach Grenzen, Differenzen, welche Diversität überhaupt erst ermöglichen, sie vielleicht gar, da sie so deutlich im Schwinden ist, noch eine Weile aufrechterhalten könnten. Denn täglich verlieren wir, während zusammenwächst, was nicht zusammengehört, an Unterschieden und Unterscheidungsvermögen. Täglich sterben Sprachen, handwerkliche Techniken, Tier- und Pflanzenarten aus. Die kulturelle, religiöse, wirtschaftliche, mediale Gleichmacherei, genannt Globalisierung oder Ökumene oder Integration oder Unisex oder wie auch immer, verstärkt das Defizit an Diversem. Nämlich nicht durch Angleichung und auch nicht durch Anpassung wird man dem andern gerecht; gerecht wird man dem andern dadurch, dass man es – oder ihn – als ein Anderes wahrnimmt und gelten lässt; doch Respekt … doch Toleranz für Differenzen gibt es ohne Grenzen nicht.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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