Diktatur

I

Vor Jahren entdeckte der russische Schriftsteller Dmitrij Galkowskij im Nachlass seines Vaters, der sich als kommunistischer Normalverbraucher stets den Zeitläufen angepasst hatte, eine Sammlung von 500 bis 600 Lyrikbänden aus der mittleren und späten Stalinzeit. Die Bücher waren teilweise von den Autoren signiert und trugen in Form von Randnotizen und Unterstreichungen zahlreiche Spuren der väterlichen Lektüre. Was konnte einen gewöhnlichen Sowjetmenschen ohne jede literarische Bildung zum furiosen Leser machen? Was für ein Interesse konnte er daran haben, Hunderte, ja Tausende von Gedichten durchzuarbeiten, die allesamt die staatliche Zensur passiert hatten und damit offiziell als «vaterländische Kunstliteratur» ausgewiesen waren, Gedichte also, denen nichts andres zu entnehmen war als das, was der Sozialistische Realismus – nach den Kriterien «Parteilichkeit», «Volkstümlichkeit», «Widerspiegelung» – forderte und zuliess. Gedichte folglich auch, die keinen Personalstil, keine individuellen Befindlichkeiten, keine persönlichen Erfahrungen oder Wertsetzungen zu erkennen gaben, sondern ausschliesslich vorgegebne Themen und ideologische Versatzstücke in sich aufnahmen.
Galkowskij konnte angesichts des einförmigen Bücherbergs, den er mit ebenso viel Widerwillen wie Faszination langsam abtrug, nur feststellen, dass hier «vollständig und klar das Wesen der Sowjetwelt» in Verse gefasst worden war, einer mit viel Pathos inszenierten, in Wirklichkeit desolaten Scheinwelt, die der Lebenslüge allzu vieler engagierten Kommunisten genau entsprach. Als literarisches Gedenkmal für seinen Vater hat er in der Folge rund 300 Gedichte aus dessen Lyrikbibliothek unter dem von Orwell inspirieren Titel Entensprache (Utkorč’, 2002) zu einer repräsentativen Anthologie zusammengeführt, die noch einmal dartut, wie beschränkt die formalen und thematischen Register der Sowjetpoesie unterm Diktat des Sozialistischen Realismus in der späten Stalinzeit gewesen sind. Allerdings sollte darüber nicht vergessen werden, dass diese staatlich gelenkte, propagandistisch eingesetzte Gebrauchsdichtung bei all ihrer Klischeehaftigkeit ein Millionenpublikum zu begeistern vermochte – gerade ihre behördlich verordnete Volkstümlichkeit, ihr immergleicher liedhafter Rhythmus, ihre immergleichen, Harmonie schaffenden Reime, ihre lebens- und zukunftsbejahenden Thesen haben wesentlich dazu beigetragen.
Das Themenrepertoire der allsowjetischen Lyrikproduktion ist sich über Jahrzehnte weitgehend gleich geblieben, auch wenn es aufgrund besondrer zeitgeschichtlicher Ereignisse (wie des Grossen Vaterländischen Kriegs) oder innenpolitischer Prioritäten (wie etwa der Neulandkampagnen unter Chrustschow und Breshnew) zu vorübergehenden Akzentverschiebungen kam. Priorität 
hatte in jedem Fall der Führerkult, der das Dichterlob in erster Instanz auf Lenin lenkte, dann auf dessen Erben und Nachfolger Stalin, schliesslich auf die jeweils aktiven Spitzenfunktionäre der Partei, der Regierung, der Armee. Auch die Partei selbst, das ZK, die Armee oder der Staatssicherheitsdienst konnten als kollektive Subjekte Gegenstand des lyrischen Führerkults sein. Belobigt wurden die Führer als «Väter», als «Kämpfer», als «Genies», ihre Haupteigenschaften waren «Strenge», «Unbeugsamkeit», «Gerechtigkeit».
Einen wichtigen Themenkreis eröffnete sodann die Sowjetro­mantik, die den Soll-Zustand zur Faktizität erhob – Russland als «ein grosses Herz, an dem die Völker der Welt sich wärmen», oder als eine «lange, lange Bank», auf der die Menschheit zu einer «einzigen starken Familie» zusammenrückt. Die «Sowjetromantik» sollte aber auch behördlich  durchgesetzte Missbräuche  wie Zwangsarbeit, Verschickung in unbewohnte Neulandgebiete oder Denunziation von Verwandten und Freunden als freiwillige Heldentaten vor Augen führen. Im Weitern hatte sich die offizielle sowjetische Dichtung der Fünfjahrpläne anzunehmen. Diese mussten erklärt, gerechtfertigt und auch dann als Erfolge ausgewiesen werden, wenn sie scheiterten. Die daraus erwachsende Produktionspoesie inthronisierte unter anderm den Akkordarbeiter als lyrischen Helden, der sich die Materie durch erbarmungslose «Bearbeitung» untertan machte.
In der Kolchosenpoesie waren es vorab Frauen, die sich durch ihren Totaleinsatz als Melkerinnen oder Traktoristinnen hervortaten und in gereimten Versen von sich sagen durften: «Mein Charakter ist der: ich bin ein Motor, / Alles werde ich schaffen, alles flugs erlernen.» Die sowjetische Liebeslyrik wurde ob so viel weiblicher Mannhaftigkeit zugleich heroisiert und enterotisiert, sie sank klanglos auf eine Schwundstufe ab, wo das Begehren durch Fliederduft und Abendrot eingelullt oder durch Kanonendonner und Parteidekrete kompensiert wird. Zur emotionsschwachen Liebeslyrik bildete die klassenkämpferische Agitationspoesie 
einen krassen Kontrast. Hier ging es darum, unter Aufbietung von Klassenhass und kommunistischer Moral innere wie äussere Feinde zu entlarven, anzuklagen und gleich auch zu verurteilen. Volksfeinde, Saboteure, Verräter avancierten ebenso wie Kapitalisten, Kosmopoliten oder Liberale zu lyrischen Antihelden und wurden von eifrigen Sowjetautoren mit höhnischer, oft auch mit aggressiver Verachtung in Versform abgefertigt.

II

Agitations- und Produktionspoesie sowie dichterischer Führerkult machten das Gros der einstigen Sowjetlyrik aus, deren Autoren mit hohen Auflagen und Honoraren, mit Privilegien und Prämien rechnen konnten. Wer sich den entsprechenden Postulaten des Sozialistischen Realismus verweigerte oder an ihnen scheiterte, wurde – so lautete das übliche Verdikt – «aus der Sowjetliteratur ausgeschlossen» und verlor damit jegliche Publikationsmöglichkeit. Bis in die 1970er Jahre haben diverse Schriftstellerprozesse deutlich gemacht, dass der Ausschluss aus dem offiziellen Literaturbetrieb vielfach einem Ausschluss aus der Gesellschaft gleichkam und durch Gefängnis oder Zwangsarbeit bekräftigt werden konnte.
Gefängnis und Zwangsarbeit gehörten für Millionen von Sowjetbürgern zur desolaten Lebenserfahrung in der angeblich besten aller Welten, für allzu viele endete diese Erfahrung mit dem gewaltsamen Tod. In den stalinistischen Straf- und Vernichtungslagern waren nicht nur zahlreiche professionelle Schriftsteller interniert, manche Insassen, die zuvor nie etwas mit Literatur zu schaffen hatten, sind überhaupt erst im Gulag zu Dichtern geworden, haben die – lebensgefährliche – Geste des Schreibens als Überlebensversuch mit dem Einsatz ihrer Existenz praktiziert.
Diese Praxis, diese Geste war vielfach behindert, nicht allein durch strenge Verbote und Kontrollen, sondern auch durch das Fehlen von Schriftträgern und Schreibgeräten. Wohl schrieb man 
ausnahmsweise auf Zigaretten- oder Zeitungspapier, doch um jeden Zugriff auf inkriminierbare Texte auszuschliessen, wurden diese mehrheitlich «im Kopf» entworfen, ständig memoriert und mündlich weitergegeben. Die Gefangenen, unter ihnen viele Frauen, prägten sich ausser den selbst verfassten Gedichten auch jene ihrer Mithäftlinge ein: Tausende von Versen auswendig zur Verfügung zu haben, gehörte unter intellektuellen Lagerinsassen beinahe zur Normalität, und so konnte im weit verzweigten Gulag so etwas wie ein lebendiges kollektives Gedächtnis entstehen, kraft dessen ein bedeutsamer Teil der inoffiziellen literarischen Kultur Sowjetrusslands erhalten geblieben ist.
Dazu zählen nicht zuletzt die Texte solcher Autoren, die in den Lagern umgekommen oder umgebracht worden sind und von denen man heute keinerlei Kenntnis hätte ohne die einzigartige gemeinschaftliche Gedächtnisleistung der Überlebenden. In einem fast 1.000seitigen Sammelwerk hat Semjon Wilenskij Die Poesie der Gulag-­Häftlinge (Poezija uznikov Gulaga, 2005) – und damit die kaum bekannte Kehrseite der Sowjetdichtung – auswahlsweise dokumentiert. Damit wird, erstmals in solchem Umfang, der Vergleich ermöglicht zwischen der offiziellen stalinistischen Lyrikproduktion und dem gleichzeitigen, quasi virtuellen Schaffen ausgegrenzter Autoren.
Ein erster Augenschein offenbart Überraschendes: In formaler Hinsicht gibt es zwischen den «zwei Literaturen» kaum einen Unterschied. Auch unter den Extrembedingungen des Gulag entstanden vorwiegend volksliedhafte, konventionell gereimte, bald von Pathos, bald von Zorn diktierte Gedichte mit äusserst eingeschränktem Themenhorizont. Noch überraschender: Die Themen stimmen weitgehend überein, nur präsentieren sie sich im Lager unter umgekehrter Perspektive. Der Führer- und Parteikult wird auf biblische, mythologische, historische Gestalten, auf die Kirche, das Heilige Russland übertragen; statt kommunistischer Loyalitätsbezeugungen liest man gereimte Gebete; beschimpft werden nicht angebliche «Volksfeinde» oder antisowjetische «Ver
leumder», sondern umgekehrt deren in Freiheit lebende Denunzianten, und die sozialistisch-realistische «Produktionspoesie» findet ihr absurdes Pendant in lyrischen Anklagen und Protesten gegen Zwangsarbeit im Lager oder erzwungenes Nichtstun im Gefängnis.
So bleiben die «zwei Literaturen» gleichsam mit umgekehrtem Vorzeichen aufeinander fixiert. Eine entscheidende Differenz ist allerdings – abgesehen von den gegenläufigen Lebenswegen der «offiziellen» und «inoffiziellen» Autoren – klar zu benennen: die Differenz der dichterischen Qualität. Ganz offenkundig ist unter den mannigfachen Bedrohungen und Entbehrungen der Gefängnis- oder Lagerhaft weit stärkere Literatur hervorgebracht worden als im behördlich abgesteckten Freiraum, den die parteitreuen Autoren zur Verfügung hatten. Tatsächlich findet sich unter den von Galkowskij zusammengetragnen konformistischen Gedichten kaum eines, das künstlerisch zu überzeugen und seine Zeit zu überdauern vermochte, während andrerseits der Fundus der Gulag-Literatur Werke von höchstem Rang bereithält, die erst noch zu entdecken und in die zahlreichen Leerstellen der «Sowjetliteratur» einzuschreiben sind.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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