Eisgang

I

Zu vergegenwärtigen, zu besprechen ist ein Gemälde von Claude Monet, das seit 1924 seinen Platz in der Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» in Winterthur hat und hier unter dem Titel Die Seine bei Eisgang registriert ist.

II

Entstanden ist das Werk – Öl auf Leinwand, 60 x 99 cm – im Januar 1880, fertiggestellt wurde es etwa ein Jahr danach, Anfang 1881. Der Winter war einer der kältesten des gesamten Jahrhunderts, die Seine lag unter einer Eisschicht von einem halben Meter Dicke und muss wie ein gigantischer Gletscher ausgesehn haben – für den Maler lichtvoller Gärten und Seestücke ein herausforderndes Motiv, farblich eintönig und düster, stimmungsmässig schwankend zwischen Sensation und Katastrophe. Nicht daran zu denken, unter solchen Bedingungen vor der Natur zu arbeiten. Monet konnte die Situation nur rasch skizzieren und musste das Bild danach im Atelier ausführen. Wie sehr ihn das Motiv beeindruckt und beschäftigt hat, ist durch die erstaunliche Tatsache belegt, dass er die vereiste Seine unweit seines Wohnorts Vétheuil in der Folge auf insgesamt 25 Gemälden festhielt.

III

Claude Monet stand zu jener Zeit genau in seiner Lebensmitte, er war 40 Jahre alt und befand sich, materiell noch immer in ärmlichen Verhältnissen lebend, am Beginn seines Ruhms als Pionier und Grossmeister des sogenannten Impressionismus, zu dem er – von manchen geschmäht, von andern bewundert – bereits eine Reihe von wegweisenden Musterstücken beigetragen hatte. Tatsächlich gibt es zwischen der Seine bei Eisgang und dem weit bekannteren, als Kalenderbild vielfach reproduzierten Sonnenauf­gang, den Monet – knapp ein Jahrzehnt zuvor – programmatisch als «impression» bezeichnet hatte, gewisse koloristische, strukturelle und vor allem auch motivische Übereinstimmungen, doch in ihrer Wirkung auf den Betrachter – jedenfalls auf mich – könnten die beiden Gemälde unterschiedlicher gar nicht sein. Während der Sonnenaufgang – die Szene liegt, dominiert vom glutroten Sonnenrund, unter einem Dunstschleier und scheint sich darin aufzulösen – einen bereits warm erleuchteten Himmel und eine frühe rötliche Lichtspur erkennen lässt, die wie ein Pfad übers bewegte Wasser zu einem Kahn führt, auf dem zwei schattenhafte, dem Morgen zugewandte Figuren stehen, gibt es beim Eisgang keine sichtbare oder wenigstens rekonstruierbare Lichtquelle.

IV

Die dargebotene winterliche Flusslandschaft ist hier eine einzige (wenn auch mit subtilen Farbnuancen durchsetzte) Grisaille, in der Licht und Schatten so gleichartig verteilt sind, dass auf keine bestimmte Tageszeit geschlossen werden kann. Alles – Welt wie Zeit – scheint stillzustehn, die Landschaft wirkt finster, gleichförmig, starr und hat etwas durchaus Bedrohliches. Ebenso gut wie eine Landschaft könnte man in diesem Bild ein Stillleben erkennen, eine nature morte, ein Stück toter Natur. Denn Lebendiges sucht man hier vergeblich – keine Spur von Mensch und Tier, von menschlicher oder tierischer Existenz und auch keinerlei Hinweise auf zivilisatorische Zeugnisse in der Nähe der dargestellten Szenerie: keine Häuser, kein Stall, keine Kirche, kein Zaun, keine Brücke, kein Telegraphen- oder Fahnenmast sind in der grauen Einöde auszumachen.

V

Stattdessen eine unregelmässige Reihe hoch aufragender Bäume, vermutlich Pappeln, die aber keinen pflanzlichen Charakter, keine vegetative Substanz mehr haben, die vielmehr wie erstarrte Rauchsäulen über einem unsichtbaren Trümmerfeld zum Himmel ragen. Im Vordergrund, von unten breit ins Bild geführt, der Seine-Fluss, ein Fluss allerdings mit regloser Oberfläche, ein Fluss, der – wie von unsichtbarer Hand angehalten – im Stillstand verharrt und auf dem eine Vielzahl von grossen Eisschollen eher schwebt als treibt.

VI

Als Betrachter befinde ich mich an einem unbestimmbaren Ort über der Eiswüste, und es verfestigt sich bei mir der Eindruck, als wäre ich – zugleich ausserhalb des Bilds und Teil von ihm – der letzte überlebende Zeuge einer unversehens hereingebrochnen neuen Eiszeit oder auch: der erste und alleinige Bewohner eines fremden Planeten. Wo die Welt zum Stillleben geworden ist, wo der Fluss in seinem Lauf erstarrt, da gibt es auch den Fluss der Zeit nicht mehr – was wir vor uns haben, ist eine ultimative Katastrophen- oder Horrorszenerie, ein Debakel eben, über dem sich ein ewiger Mittag erhebt, eingemittet und für immer erstarrt zwischen Morgen und Abend, Tag und Nacht. Vielleicht ist am ehesten in dieser Weise Zeitlosigkeit und also auch die Ewigkeit bildnerisch zu vergegenwärtigen – als graue tote Natur. Verglichen mit Monets Eiswüste nehmen sich die Polar- und Hochgebirgsräume Caspar David Friedrichs geradezu harmlos aus: manieristische Ideallandschaften, die sich spekulativer Anschauung darbieten und denen gegenüber der Betrachter stets eine souveräne Aussenposition einnimmt, wogegen ich beim Eisgang zutiefst involviert und zugleich verunsichert bin – das Bild scheint mich während der Betrachtung wie ein Rundumpanorama  einzuschliessen, und meine Ortlosigkeit macht jede kritische, das heisst «unterscheidende» Distanz unmöglich, denn nicht einmal die natürliche (reale) Fliessrichtung der Seine ist erkennbar – führt sie in die Tiefe des Bilds? drängt sie nach vorn auf den Betrachter zu?

VII

Ob Die Seine bei Eisgang tatsächlich als eine Art Weltbild zu sehen und fassbar zu machen ist, muss offenbleiben. Ich schlage hier lediglich eine persönliche, ganz subjektive Lesart des Malwerks vor, in dem ich eine apokalyptische Vision zu erkennen glaube, eine Welt, die den Menschen entlassen hat oder die vom Menschen verlassen wurde, eine Welt ohne Wärme und Wandel, wüst und leer wie in ihrem Beginn, düster und unfruchtbar, gleichförmig und abweisend. Aber vielleicht hat ja der Maler, den man vorab als meisterlichen und liebevollen Gestalter paradiesischer Garten- und Seerosenbilder kennt, angesichts des Eisgangs auf der Seine überhaupt nicht an das Weltende und sonstige Furchtbarkeiten gedacht; vielleicht hat ihn die tote Natur ganz prosaisch und aus rein professionellen Gründen, als Sujet interessiert, als künstlerische Aufgabe. Vielleicht hat er mit seinem Bild also gar nichts Besonderes, über das Sujet Hinausgehendes sagen, bedeuten, beweisen, prophezeien wollen, sondern hat ganz einfach bildnerisch umgesetzt, was er vor Augen hatte und was er als Szene festhalten wollte – festhalten womöglich gerade deshalb, weil das Motiv, der unbewegte und farblose Flussabschnitt vor seiner Haustür bei Vétheuil, darstellerisch beziehungsweise thematisch kaum etwas hergab und eigentlich nichtssagend war: kein Fest der Farben, kein dramatisches Helldunkel, kein attraktives Bildpersonal, nichts Literarisches, Nacherzählbares. Umso anspruchsvoller muss der Entscheid gewesen sein, aus einer derart trostlosen Vorgabe ein malerisch ergiebiges, künstlerisch überzeugendes Werk zu schaffen.

VIII

Dem kargen Bildmotiv entspricht der strenge Bildaufbau. Die Erstarrung und Vereisung der Flusslandschaft an der Seine finden ihre Entsprechung in der Statik der Darstellung. Der Horizont verläuft exakt auf halber Höhe des Bilds, teilt es spiegelbildlich in zwei gleich grosse grautönige Felder – spiegelbildlich auch in darstellerischer Hinsicht, denn die Reihe der unterschiedlich hohen Bäume wird reflektiert von der reglosen Oberfläche des Flusslaufs, der unter dem bleiernen, grau zugemalten Himmel einzuhalten scheint. Die etwas helleren Eisschollen erinnern ihrer Form nach an Wolken, und wenn man das Bild umkehrt, es also um 180 Grad dreht, sieht es in der Tat so aus, als stünde ein dicht bewölkter Himmel über einem grossen stillen Gewässer, in dem sich eine mächtige Baumreihe spiegelt. Die Symmetrie ist so ausgeprägt, dass Spiegelung und gespiegeltes Objekt vertauschbar werden.
Dreht man das Bild bloss um 90 Grad, so dass der Horizont senkrecht zu stehen kommt, wird ebenfalls ein völlig symmetrischer Grundraster erkennbar – die senkrechte Bildachse steht genau in der Mitte zwischen rechts und links, und sie selbst wiederum wird genau in der Mitte – nunmehr also auf halber Höhe – von einem Querbalken (bestehend aus zweidrei besonders hohen Bäumen und deren Spiegelung) überschnitten, so dass sich in der Bildmitte andeutungsweise ein Kreuz ergibt.
Das kleine Experiment mit der partiellen Bilddrehung macht deutlich, dass Monet die dargestellte Gegenständlichkeit hinter die Bildstruktur zurücktreten lässt, deutlich auch, dass für ihn oben und unten, rechts und links keine unverrückbaren Gege
benheiten bildlicher Darstellung mehr sind oder zu sein brauchen. Und das heisst auch, noch allgemeiner, dass selbst die Dar­stellung (beziehungsweise die Darstellung selbst) als Obligatorium der Malerei nicht mehr sakrosankt ist, dass sich die Malerei vielmehr von ihrer Darstellungsfunktion (oder gar von ihrem Darstellungsauftrag) zurückzuziehen beginnt –

IX

– das ist der Punkt, an dem die sogenannte Revolution der modernen Kunst ansetzt, der Punkt, von dem aus die Malerei sich von der ausserkünstlerischen Wirklichkeit absetzt, von dem aus sie sich abwendet vom Gegenstand, von der menschlichen Figur, um «abstrakt» zu werden, man könnte auch sagen: «rein malerisch»; oder: künstlerisch allein «um der Kunst willen», bildnerisch «um des Bilds» willen und nicht bloss, um ein Abbild dessen zu liefern, was auch in der realen Welt zu beobachten wäre.

X

Doch zurück nun zur Normalansicht der Seine bei Eisgang. Man könnte die Dürftigkeit der dargestellten Winterlandschaft als elementar im eigentlichen Wortsinn bezeichnen, denn was hier dominiert, was die Bildanlage und auch die Bildidee beherrscht, sind – von oben nach unten – die Elemente Luft (Himmel), Erde (der schmale Horizontstreifen) und Wasser (der Fluss). Was allerdings fehlt, ist das Feuer, es gibt auf diesem Gemälde, ich wiederhole es, keine Lichtquelle, alles ist gleichmässig mit Grau verhängt, warme Farben fehlen, und damit verstärkt sich beim Betrachter – vom Maler sicherlich so gewollt – auch der Eindruck beziehungsweise die Empfindung von unwirtlicher, ja bedrohlicher Kälte.
Die Reduktion der Erde, des festen Bodens auf eine Andeutung von Horizont lässt umso deutlicher die Übermacht von Luft und 
Wasser hervortreten, eine Übermacht, die umso unheimlicher wirkt, als Wasser wie Luft zu ewigem Stillstand erstarrt zu sein scheinen.

XI

Man erinnerne sich an dieser Stelle kurz an das von Gustave Courbet um 1870 gemalte Marinebild Die Woge. Auch dieses Werk ist streng symmetrisch angelegt, auch dort teilt der Horizont das Gemälde in zwei Felder von gleicher Grösse, auch dort herrschen, noch ausschliesslicher als hier, die Elemente Luft (Himmel) und Wasser (Meer) vor. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden so ähnlichen Bildkonzepten besteht allerdings darin, dass Courbet die Statik und Symmetrizität der Bildanlage machtvoll konterkariert durch das höchst dynamische Motiv der hochgehenden, gleichsam auf den Betrachter zurollenden Meereswoge – ein Motiv, das mit der Idee des Stilllebens in keiner Weise zu verbinden ist, ein Motiv auch, das den Maler – anders als der erstarrte Flusslauf der Seine bei Monet – gerade durch seine Hinfälligkeit, seine Wandelbarkeit dazu provoziert, es im Bild festzuhalten.

XII

Ich möchte nun in einem weitern Schritt der Annäherung versuchen, meine Lesart des Gemäldes darzulegen, einen durchaus subjektiven Deutungsversuch, der eher auf Assoziationen denn auf gesicherten Erkenntnissen beruht, einen Versuch auch, der weniger auf Monets Bild ein- als vielmehr davon ausgeht, vermutlich weit über die allfälligen Intentionen des Künstlers hinaus. Ich finde eine solche Lesart – in der Bild- wie in der Sprachkunst – nicht nur berechtigt, ich halte sie für die produktivste überhaupt. Es ist eine Lesart, die nicht von Vorwissen und schon gar nicht von speziellen Kenntnissen über ihren Gegenstand ausgeht, sondern einfach von dem, was einem – hier also mir – zu einem Bild, einem Text einfällt. Oder anders gesagt: was dieses Bild oder jener Text bei mir an Reaktionen, Vergleichen, Erinnerungen, Stimmungen, vielleicht auch an Wünschen hervorruft.

XIII

Als ich Die Seine bei Eisgang kürzlich nach mehreren Jahren wieder einmal in Augenschein nahm, war der erste aufkommende Gedanke dieser: Damals, zu Monets Zeiten, gab es in Mitteleuropa – im Unterschied zu heute – noch richtig schöne eiskalte Winterwochen … Oder knapper ausgedrückt: Damals war der Winter tatsächlich noch Winter, hat seinen Namen tatsächlich verdient, hatte (um es schlicht und einfach so zu sagen:) seine Richtigkeit. Bei diesem Gedanken kam unwillkürlich und sofort das Gefühl eines Verlusts auf, eines Defizits der Jetztzeit gegenüber damals und auch umgekehrt – das Gefühl eines Vorzugs von damals gegenüber heute, da die fortschreitende, durch menschliche Machenschaften bewirkte Erderwärmung den klirrend kalten Winter mehr und mehr zur Illusion werden lässt.

XIV

Der zweite Gedanke brachte mir dann aber doch ins Bewusstsein, dass im 19. Jahrhundert ein eisiger Winter wie der von 1880/1881 für die Menschen tatsächlich eine Katastrophe gewesen sein muss. Durchaus denkbar, dass man damals wie heute einen bedrohlichen Klimawandel befürchtete, nur eben nicht als Erwärmung, sondern als zunehmende Verkühlung der Erde. Es gibt ja sicherlich mehr Endzeitvisionen, die das Leben auf unserm Planeten dem Kälte- als dem Wärmetod ausgeliefert sehen. Und man darf auch nicht vergessen, dass Monet und seine Zeitgenossen jedes Zimmer einzeln beheizen mussten und dass die Gebäude gegen Kälte kaum isoliert waren. Was der Künstler auf und mit seinem Bild festgehalten hat, ist also keineswegs ein heiterer, von Schnee glitzernder Wintertag, es ist eine Szenerie, die er persönlich als Härtesituation erlebt und die er als Maler zur endzeitlichen Vision des weltweiten Kältetods überhöht hat. Und man könnte angesichts der wahrhaft horrenden Eisesstarre durchaus vermuten, dass die Menschen und mit ihnen auch ihre zivilisatorischen Errungenschaften aus dieser Welt bereits definitiv verschwunden sind.

XV

Vor meinen Augen scheint sich bei diesem Gedanken die starre Pappelreihe in die Skyline einer heutigen Metropole zu verwandeln – mit Hochhäusern, Sendetürmen, Fabrikschloten –, und ich stelle mir unsre menschenleeren Städte im ewigen Eis vor, das nun, da es keine Brennstoffe mehr gibt, jedes Leben unmöglich macht und alles, was dennoch überdauert, wie ein Panzer überzieht und reglos verharren lässt …
Aber, wir wissen es nun, nicht die Kälte, sondern die überhand nehmende Wärme ist unsre Bedrohung, der Hitzetod mithin weit wahrscheinlicher als der Tod im Packeis.
Man braucht nicht gleich die Höllenglut oder den Feuersturm herbeizureden, doch die bereits regelmässig und weltweit auftretenden gewaltigen Waldbrände künden unheilvoll von einem solchen Sturm. Solange aber die allgemeine, das heisst durchschnittliche Erwärmung nur um Bruchteile von Graden pro Jahrzehnt ansteigt, wird kaum jemand ausser den Kurdirektoren an Wintersportplätzen oder den professionellen Meteorologen sich darüber beklagen. Solange die Wärme im Bereich des Angenehmen bleibt, wird man sich keine allzu finstern Gedanken machen und wird es auch keine konsequente Bekämpfung der Erwärmungsursachen geben.

XVI

Ganz anders wäre es im umgekehrten Fall, also dann, wenn die Durchschnittstemperatur jährlich sinken, der Winter länger und härter, der Sommer kühler und kürzer würde – wenn die Alpengletscher nicht zurückweichen, sondern sich ins schweizerische Mittelland vorschieben würden und wenn die Heizungen rund ums Jahr in Betrieb bleiben müssten. Hätte sich Monets Vision einer vereisenden Welt mit nachfolgendem allgemeinem Kältetod auch nur ansatzweise in der Wirklichkeit abgezeichnet, so hätte man allfällige menschengemachte Ursachen dafür längst beseitigt: abnehmende Wärme ist offenkundig um ein Vielfaches abschreckender als zunehmende Wärme, und das ewige Packeis wirkt bedrohlicher als der ewige Feuersturm. So wird es vermutlich noch manchen Grad Celsius an Erwärmung und noch manche Überwärmungskatastrophe brauchen, bis wir Normalverbraucher darin ein Menetekel erkennen, das uns auch persönlich einholen und betreffen könnte.

XVII

Ist es – mit Blick auf Die Seine bei Eisgang – vorstellbar, dass Monet gar nicht den Kältetod, sondern im Gegenteil die allmählich hereinbrechende Wärme mit seinem Bild hat ankündigen wollen? Eine rhetorische, eine paradoxe Frage! Doch der originale französische Bildtitel scheint darauf zu verweisen: La Débâcle de la Seine. Das Wort «débâcle» bedeutet nämlich keineswegs «Debakel», «Katastrophe», «Ungemach», es bedeutet – abgeleitet von bâcler, «versperren», und herkommend von lateinisch bacculum, «Balken, Sparre» – so viel wie «Entriegelung», «Entsperrung» und eben auch (vom Eis) ein «Auftauen» und «Aufbrechen». Eisgang bedeutet immer auch Eisschmelze. So verstanden würde nun aber das endzeitliche Katastrophenbild unversehens zu einem Hoffnungsbild, zur Ankündigung des Tauwetters und des nachfolgenden Frühlings. Darauf liessen womöglich jene wenigen, sehr diskreten Einsprengsel warmer Farbnuancen schliessen, mit denen Monet den schmalen Erdstreifen quer in der Bildmitte durchsetzt hat – vielleicht soll daraus, aus dieser minimalen Erdwärme, die neue Vegetation erwachsen? ein neues Leben? eine bessere Zukunft!

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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