Erbstück

Ich war noch in der Mittelschule, als mich mein Vater einst beiseite nahm und mir vertraulich ein kleines Metallplättchen in die Hand drückte, an dessen Seite wie ein Zahn ein dreieckiges auf- und zuklappbares Element befestigt war. «Mit diesem Dosenöffner», sagte er, «war ich im Krieg, der hat mich überallhin begleitet, mit dem kommst du an jeden Büchsenvorrat heran – Hering, Tomatenmark, Apfelmus, Fertigsuppe, Fleischkäse, Schiesspulver, Karbid. Kann dir das Leben retten.» Ich trage dieses winzige, tatsächlich perfekt funktionierende Teil, das sich «im Krieg» bewährt hatte, noch heute in meinem Portemonnaie mit mir herum, es ist der einzige persönliche Gegenstand, den Vater mir anvertraut hat. Das unscheinbare graue Plättchen ist für mich so etwas wie eine Reliquie geworden, aber nicht weil es lebensrettend sein sollte, sondern weil sich ihm eine Lebenserfahrung eingeprägt hat, die ich selber nicht habe, auch nicht haben möchte, für die ich mich dadurch aber irgendwie gewappnet fühle. Abgesehn davon ist der Dosenöffner, den ich übrigens auch als Schraubenzieher, als Brieföffner, als Spachtel, sogar als Buchzeichen verwende, ein Meisterstück modernen Designs, dessen schnörkellose Form und vielfache Brauchbarkeit auf überzeugende Weise schön sind.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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