Erinnerungskultur

I

Während insgesamt achtzehn Monaten war der polnisch-französische Maler und Publizist Joseph Czapski als Kriegsgefangener in verschiednen sowjetischen Arbeitslagern interniert, zuletzt in Grjasowez unweit von Wologda, wo er zusammen mit rund 400 Landsleuten das Winterhalbjahr 1940/1941 verbrachte. Die Gefangenen, Offiziere und Soldaten, waren in den Ruinen einer ehemaligen, von den Bolschewiken gesprengten Klosteranlage notdürftig untergebracht. Bei extremer Kälte musste tagsüber draussen gearbeitet werden. Entbehrungen und Repressionen aller Art, aber auch die Ungewissheit über den Fortgang des Kriegs und über die Dauer der Gefangenschaft machten den Lageralltag zum Alptraum.
Diesen Alptraum versuchte Czapski, der in der Zwischenkriegszeit lange Jahre als Künstler in Paris und London gearbeitet hatte, zu konterkarieren dadurch, dass er im Lager zusammen mit 
einigen Gesinnungsfreunden ein intellektuelles Privatissimum unterhielt, wo regelmässig (mit Genehmigung, aber auch mit strengen Auflagen der zuständigen sowjetischen Aufsichtsbehörde) Vorträge und Aussprachen stattfanden. Die Themen dieser Veranstaltungen – Literatur, Kunst, Architektur und andres mehr – standen in eklatantem Kontrast zur Lagerwirklichkeit. Als Dozenten stellten sich Vertreter unterschiedlichster Berufe und eben auch Joseph Czapski zur Verfügung, der in Grjasowez vorzugsweise über polnische Malerei und neuere französische Literatur referierte. Dazu gehörte ein Vortrag über Marcel Proust, den Czapski in einem russischen Schulheft auf Polnisch konzipierte und mit Buntstiften schematisch aufzeichnete. Eine französische Nachschrift dieses Skripts erschien 1987 im waadtländischen Montricher, erst seit kurzem liegt der Text auch in deutscher Übersetzung vor.

II

«In einem kleinen, überfüllten Raum sprach jeder von uns über das, woran er sich am besten erinnerte», notiert der Autor in seinem Vorwort: «Ich sehe meine Kameraden noch vor mir, die, zusammengedrängt unter den Porträts von Marx, Engels und Lenin, erschöpft von der Arbeit bei oft bis zu 45 Grad Kälte, unseren Vorträgen über so weit von unserer damaligen Realität entfernten Themen lauschten.» Als virtuelle Referenzbibliothek stand den Vortragenden nichts andres als ihr eignes Gedächtnis zur Verfügung – Bilder und Bauten mussten ebenso memoriert werden wie Geschichtswerke oder Gedichte, Romane oder Dramen, über die man berichten wollte. Czapski versuchte aus dieser Not insofern eine Tugend zu machen, als er sie für eine besondere und, wie sich herausstellte, eine besonders produktive Zitationsweise nutzte, produktiver jedenfalls als das übliche Zitieren nach gedruckten Vorlagen, die man als Volltext unter der Hand hat.
Stattdessen musste sich Czapski seine einstigen Lektüren mit höchster Konzentration neu vergegenwärtigen, und nur das, was er nach zehn, nach zwanzig Jahren solcherart wieder auf den Punkt zu bringen vermochte, stand ihm als Stoff für seine Referate und Diskussionsbeiträge zur Verfügung. Ob nun eine bestimmte Textstelle wortgetreu reproduziert werden konnte, war weit weniger bedeutsam als die Tatsache, dass er sie überhaupt im Gedächtnis behalten und sich angeeignet hatte. Die Subjektivität der Aneignung und damit auch die «verfälschende» Modifikation gewisser Zitate wurde unter den damaligen Bedingungen nicht als Mangel empfunden, sondern umgekehrt als «unverfälschter» Ausdruck von Aufrichtigkeit und Authentiziät. Schwer vorstellbar, was derartige Erinnerungsleistungen unter den horrenden Überlebensbedingungen des Arbeitslagers an Energie gekostet, aber auch an intellektueller und psychischer Kräftigung eingebracht haben müssen.

III

Mit Marcel Prousts Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit hatte sich Joseph Czapski erstmals in den mittleren 1920er Jahren beschäftigt. Die Initiation in diese weitläufige und anspruchsvolle Lektüre ergab sich «dank einem Typhusfieber», das ihn wochenlang zur Bettruhe zwang, und hinterliess bleibende – sowohl persönliche wie literarische – Prägungen. Im Lager vermochte Czapski jene Prägungen mit staunenswerter Detailtreue zu reaktivieren und aufzudatieren. Es gelang ihm, die verzweigten Handlungs- und Gedankenstränge des Romans sowie dessen Personal und Szenerien adäquat, wenn auch nicht immer ganz präzis wiederzugeben. Seine Annäherungen an Proust sind weit mehr von Enthusiasmus diktiert denn von kritischem Interesse. Neues zum Verständnis der Suche wird man von ihm nicht erfahren, dafür aber manches über die Freuden des Lesens in einer zutiefst freudlosen Welt.
Gleichermassen anschaulich schildert Czapski die kargen Landschaften und die mondänen Intérieurs, wie Proust sie in der Suche detailscharf vorführt. Mit grosser Einfühlung analysiert er am Beispiel verschiedner Romanprotagonisten Gemütszustände wie Eifersucht, Eitelkeit, Depression, Neid, Mitleid, Verliebtheit, Sterbensangst und Todessehnsucht. Manch eine prägnante Seite widmet er dem Phänomen – und der schöpferisch-verwandelnden Macht – des «unwillkürlichen Gedächtnisses», das durch assoziative Sprünge zu immer wieder neuen Einsichten und auch zu durchaus ungewollten Erkenntnissen verhilft: in der damaligen Lagersituation konnten seine diesbezüglichen Überlegungen als konkrete Überlebenshilfe gelten.
Am Beispiel der eigenwilligen polnischen Proust-Übersetzung von Tadeusz Boy erläutert Czapski ausserdem die kompositorische und stilistische Eigenart der Suche nach der verlorenen Zeit. In kurzen Abschweifungen spricht er mit unangestrengter Treffsicherheit über Pascal, Balzac, Tolstoj oder Conrad, wobei es ihm vorab darauf ankommt, die künstlerische Literatur von jeglichem ausserkünstlerischen Nutzen, vorab von politisch-ideologischer Beanspruchung freizuhalten – eine fast schon triviale «formalistische» Forderung, die jedoch unter sowjetischer Aufsicht durchaus provokant gewirkt haben mag: «Ebensowenig [wie in der wissenschaftlichen Forschung] dürfen wir die Leistung eines Schriftstellers […] an den Ideen messen, die er zum Ausdruck bringt, sondern vielmehr an den Grenzen, bis zu denen er die Realisierung seiner Form vorangetrieben hat. Selbst bei den grössten kommt es vor, dass die Tendenz die Wirkung des Werks schmälert und nicht nur dem künstlerischen Aspekt, sondern auch und gerade der Idee schadet, der der Schriftsteller dienen wollte.»

IV

In der französischen Originalausgabe trägt Joseph Czapskis Vortragsskript den Titel Proust contre la déchéance – Proust gegen den Untergang. Damit bezieht der Autor seine Ausführungen auf den zeitgeschichtlichen Kontext ihrer Niederschrift und unterstreicht zugleich seine aus der Lagererfahrung gewonnene Überzeugung, dass Literatur in existentieller Bedrängnis tatsächlich eine rettende Kraft sein kann. Solche Wirkung mag man literarischen Texten heute, da sie mehrheitlich nach den marktrelevanten Einheitskriterien von Literaturinstituten, Literaturjurys und Literaturveranstaltern abgefasst werden, nicht mehr zugestehn und auch gar nicht zumuten. Mit seinem leisen Zeugnis aus dem ersten Kreis der Lagerhölle setzt Czapski nicht nur Marcel Proust ein schlichtes und eindringliches Denkmal, er tut es auch für die Literatur insgesamt und deren fast schon vergessne Fähigkeit, gerade in menschlichen Extremsituationen sich als Kunst zu behaupten.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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