Erstling

I

Zu den zahlreichen Mystifikationen, mit denen Blaise Cendrars seine Werkbiographie angereichert hat, gehört – als eine der vertracktesten – der von ihm oftmals wiederholte Hinweis auf seinen literarischen Erstling, eine Versdichtung des Titels La Légende de Novgorode, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland erschienen sein soll, von der er aber nie ein Belegstück und auch nicht das Originalskript hat vorzeigen können.
Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass er in manchen seiner Dicht- und Erzählwerke sowie in Interviews und privaten Verlautbarungen auf die «Legende» explizit Bezug nimmt oder zumindest darauf anspielt, bemerkenswert auch, dass er den Titel bibliographisch stets präsent gehalten hat, indem er ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit als «vergriffen» rubrizierte. Über den Umfang, den Inhalt, die Machart des Textes schwieg er sich konsequent aus, bestand indes darauf, dass er, nach ein paar wenigen vorgängigen Schreibversuchen, mit der Niederschrift der «Legende» zum Dichter geworden sei.
In La Prose du Transsibérien (1913), einem autobiographisch grundierten Erzählgedicht, hält Cendrars selbstironisch fest, er sei noch «kaum sechzehn Jahre alt» gewesen, als er sich – «in Moskau» – bereits für einen «schlechten Dichter» halten durfte. Aus späteren Verlautbarungen und namentlich aus einem Interview von 1956 war dann aber zu erfahren, dass er doch erst «im Alter von gegen achtzehn Jahren», und zwar «in St. Petersburg» zu schreiben begonnen habe, wo er sich demnach um 1905 als «Dichter-Lehrling» aufhielt.
Auf diese entscheidende Episode ist Cendrars verschiedentlich, in literarischen Texten ebenso wie in privaten Aufzeichnungen und mündlichen Zeugnissen, zurückgekommen, doch seine einschlägigen Informationen sind derart widersprüchlich, dass sie 
den wirklichen Sachverhalt eher verunklären als einsichtig machen. In Cendrars’ Erinnerungsbuch Vol à voile (1932) werden die russischen Lehrjahre bereits ab 1902 gezählt – «ich war fünfzehn Jahre alt» –, von literarischen Versuchen ist hier allerdings nicht die Rede, vielmehr geht es um eine «mehrjährige» Lebensschule, die der Autor an der Seite eines jüdischen Abenteurers aus Warschau auf ausgedehnten Reisen durch das Zarenreich, vom Kau- kasus bis nach Sibirien und weiter nach China, in die Mandschurei, absolviert haben will, nachdem er mit seinem autoritären Vater definitiv gebrochen und sein Elternhaus in Neuchâtel verlassen hatte.
Trotz mancherlei biographischen Unstimmigkeiten scheint immerhin klar zu sein, dass sich der junge Cendrars – damals noch unter seinem zivilen Namen Frédéric Louis Sauser – im September 1904 via Basel aus der Schweiz abgesetzt hat, um in Russland sein Glück zu suchen, und was er fand, war nichts anderes und nicht weniger als die Freiheit, die Frau, die Poesie. Drei Monate soll sich Freddy Sauser in Moskau aufgehalten haben, bevor er Anfang 1905 bei einem Schweizer Juwelier in St. Petersburg eine Stelle als Bürogehilfe antrat, die er in der Folge bis Ende 1907 beibehielt.
Zu diesen frühen Russlandjahren gibt es ausser Cendrars’ eigenen, ebenso abenteuerlichen wie fragwürdigen Reminiszenzen, die er während Jahrzehnten immer wieder aufgriff und phantasievoll variierte, keinerlei dokumentarische Belege – weder Fahrkarten noch Photos, weder Briefe noch Tagebücher, aber auch keine Zeitzeugnisse von Drittpersonen sind erhalten geblieben, durch die sich seine angeblich hektische Reisetätigkeit in Russland belegen liesse. Was man aus Cendrars’ belletristischen Werken über seine Abstecher nach Armenien oder Buchara, ins «Hinterland von Farsistan», auf die «Hochebenen von Ispahan» oder ins nordostsibirische Mündungsgebiet des Lena-Flusses erfahren kann, ist wohl eher auf seine unbändige Einbildungskraft zurückzuführen, als dass es durch seine reale Biographie beglaubigt wäre.
Glaubhaft ist jedoch, dass der achtzehn-, neunzehnjährige Freddy in der russischen Hauptstadt seine erotische wie auch seine dichterische Initiation erfuhr, dass er dadurch zu sich selber fand und zumindest vorübergehend auf seine eignen Füsse zu stehen kam. Dass gleichzeitig, unmittelbar vor seiner Haustür, die erste russische Revolution stattfand, scheint er kaum wahrgenommen zu haben, zu sehr war er absorbiert von den grossen Expeditionen, die er im Gepäckwagen der Eisenbahn, auf Kriegs- und Schmugglerpfaden, in der Steppe und im Hochgebirge eine nach der andern unternahm – sei’s in Wirklichkeit, sei’s in der Vorstellung oder auf dem weissen Papier, dem er seine ersten ernst zu nehmenden Verse anvertraute. Als ihn aus Neuchâtel die Nachricht erreichte, dass seine Mutter schwer erkrankt sei, entschloss er sich – nunmehr zwanzig Jahre alt – zur Rückkehr in die Heimat, die er einst in pubertärem Aufbegehren verlassen hatte. Im April 1907 war er wieder zu Hause, im Herbst würde er an der Berner Universität das Studium der Medizin aufnehmen.
Nachdem der nicht ganz freiwillige Heimkehrer eine Weile mit seiner Petersburger Geliebten, vermutlich einer Russlandschweizerin, korrespondiert hatte (die Kopien seiner Briefe sind erhalten), musste er bereits Ende Juni 1907 erfahren, dass sie in einer Feuersbrunst zu Tode gekommen war. Frédéric Sauser scheint diesen tragischen Vorfall, für den er sich aus welchen Gründen auch immer mitverantwortlich fühlte, zum Anlass genommen zu haben, sein erstes literarisches Werk niederzuschreiben, das nachmals als La Légende de Novgorode tatsächlich legendär wurde, dessen Existenz aber erst seit ein paar Jahren durch ein zufällig – in Sofia – wiedergefundenes, heute in einer Privatsammlung aufbewahrtes Einzelexemplar belegt ist.

II

Es handelt sich dabei um ein annähernd quadratisches, ursprünglich wohl fadengebundenes Heft, das in russischer Sprache auf 9 (von insgesamt 14) Seiten den Text der «Legende» enthält. Dieser ist auf dem Titelblatt als «Übersetzung aus dem Französischen» ausgewiesen, der Übersetzer wird lediglich durch die Initialen R. R. bezeichnet, der Name des Autors ist in kyrillischen Lettern nicht ganz korrekt als «Frederik Sozè» wiedergegeben. Als Verlagsorte figurieren Moskau und St. Petersburg, als Erscheinungsjahr wird in römischen Ziffern 1907 angegeben. Cendrars selbst hatte seinen Erstling, dessen Herausgabe offenbar eine «Geburtstagsüberraschung» des Übersetzers für den Autor sein sollte, durchweg auf 1909 datiert, und unter diesem Jahr ist er auch bis vor kurzem bibliographisch erfasst worden, oft mit der (ebenfalls vom Autor genannten) Auflagezahl: 14 Exemplare.
Nachdem Alain Moirandat und Heinrich Riggenbach 2004 in einem Basler Privatdruck die russische Erstausgabe der «Legende» (Legenda o Novgorode) nicht nur druck- und buchtechnisch genau untersucht, sondern auch deren Impressum ingeniös aufgeschlüsselt haben, kann an ihrer Echtheit kein Zweifel mehr bestehen, kein Zweifel aber auch daran, dass dieses (offenkundig unvollständig publizierte) Erstlingswerk, zu dem kein Original vorliegt, das Ergebnis einer planmässigen Mystifikation gewesen sein muss. Dafür spricht allein schon die Tatsache, dass Cendrars die «Legende» zeitlebens in der Öffentlichkeit präsent gehalten, dazu aber widersprüchliche Aussagen gemacht und manche relevanten Details verschwiegen hat.
Mystifikatorischen Charakter hat vor allem die Entstehungsgeschichte des Werks. Noch heute geht man davon aus, dass Sauser alias Cendrars die «Legende» im Sommer 1907 niedergeschrieben und dann sofort an einen «Freund» (dessen Identität ungeklärt ist) nach St. Petersburg geschickt hat. Dieser Unbekannte soll den Text (mit oder ohne Auftrag?) ins Russische übersetzt und gleich auch in Druck gegeben haben. Obwohl die Ausgabe zu Cendrars’ 20. Geburtstag am 1. September 1907 erschienen sein soll, hat der Autor sie angeblich nie zu Gesicht bekommen; dennoch war es ihm möglich, die Publikation in ihrer graphischen Aufmachung 
so genau zu beschreiben, als hätte er sie in der Hand gehabt. Ganz und gar unwahrscheinlich bleibt die bisher nie problematisierte Tatsache, dass die Abfassung der «Legende», die Übersetzung des anspruchsvollen Texts ins Russische sowie dessen Drucklegung innert bloss zwei Monaten vonstatten ging. Oder könnte es sein, dass das von Cendrars oft genannte Erscheinungsjahr «1909» gleichwohl richtig ist, dass man aber die Druckfassung vordatiert hat, um den Autor möglichst jung erscheinen zu lassen? Jugendlichkeit und Originalität gehörten bekanntlich zu den zentralen Postulaten der damaligen europäischen Avantgardebewegungen.
Noch eine Vermutung sei hier, obwohl sie recht riskant und wohl kaum zu erhärten ist, zur Diskussion gestellt. Cendrars mag nämlich jenen mysteriösen «Übersetzer» bewusst vorgeschoben haben, um davon abzulenken, dass er selbst die «Legende» in rus­sischer Sprache abgefasst hat. Verschiedentlich wurde ja die sprachliche Unbeholfenheit der «Übersetzung» bemängelt, doch vielleicht hat man es in Wirklichkeit mit der Unbeholfenheit eines hochbegabten Dichters zu tun, der sich, suchend und hastend, in einer Fremdsprache artikuliert, die er im Verlauf von zweieinhalb Jahren entsprechend erlernt haben dürfte – nicht anders als vor ihm Rainer Maria Rilke, der bereits nach wenigen Wochen des Selbststudiums und gelegentlicher Konversation russische Gedichte schrieb.

III

Nach der unerwarteten Entdeckung des russischen Erstdrucks, 1995, wurde der Text mehrfach als provisorische Rückübersetzung ins Französische vorgelegt, zuletzt 1998 als Einzelpublikation, zusammen mit dem Faksimile der russischen Ausgabe und ergänzt durch Illustrationen von Pierre Alechinsky, beim Verlag Fata Morgana; in die jüngste Werkausgabe von Cendrars (2001) ist La Légende de Novgorode nur mit dem Vorbehalt ihrer nach wie vor zweifelhaften Autorschaft aufgenommen worden.
Die beiden gegenwärtig greifbaren Textfassungen – die russische Übersetzung einerseits (falls es denn eine «Übersetzung» ist) und die französische Rückübersetzung andrerseits – lassen durchaus erkennen, dass hier ein Autor von bemerkenswerter Eigenständigkeit und ungewöhnlichem poetischem Furor am Werk war. Formal und motivisch nimmt die «Legende», ein rhapsodisches, in langen Versen und grossen Strophen sich entfaltendes Poem, manches vorweg (oder deutet es an), was Jahre danach in Pâques à New York (1912) und La Prose du Transsibérien (1913) unverkennbar wiederkehren wird: ein nomadisch bewegtes lyrisches Ich, das ständig schwankt zwischen Grandiosität und Zerknirschung, das kein Ziel, aber viele Wege kennt, das sich gern als Bürgerschreck und Globetrotter, aber auch als tragischer Held oder Märtyrer geriert, das in der Liebe gleichermassen zu Zynismus und Sentimentalität neigt, das die Alltagswelt mit vielerlei Mythen und seine Lebensgeschichte immer wieder mit der Weltgeschichte verschränkt. Dass in der «Legende» auch schon die «kleine Jehanne» namentlich eingeführt wird, die dann in La Pro­ se du Transsibérien die weibliche Hauptrolle zugedacht bekommt, macht den direkten genetischen Zusammenhang zwischen den beiden Werken offenkundig.
Auch in der «Legende» stellt sich das lyrische Ich mit einer präzisen Altersangabe vor: «Zu jener Zeit war ich ein junger Mann von siebzehn Jahren …» Und: «Erst damals war ich ein richtiger Dichter.» Mithin wäre das im Text rapportierte Geschehen auf die Zeit um und nach 1904 anzusetzen, was in der Tat genau mit Cendrars’ Russlandaufenthalt übereinstimmt. «Ich wollte mich in das Leben der Poesie stürzen / und also musste ich durch die Poesie des Lebens hindurch.» Zur Poesie des Lebens gehörten nicht nur zahllose Reiseabenteuer und Sexeskapaden, sondern auch die erste grosse Liebe, und vor allem diese hat den Jüngling zum Mann, den Mann zum Dichter gemacht. Der Feuertod der Geliebten scheint die Initiation vollendet zu haben: «… einer weissen Nacht ähnlich ist mein Gedächtnis bis auf diesen Tag, / 
denn man hat meine Helena entführt / und Troja hat sich bereits in Asche verwandelt …» Der junge Dichter, Verfasser der Légende de Novgorode, hat daraufhin – so heisst es wörtlich im Text – «sich selber wie Asche gesehen, / nach der Feuerglut der Gefühle und Hoffnungen». Aus «Feuerglut» (braise) und «Asche» (cendre) formte Frédéric Sauser in der Folge seinen Dichternamen, den er als Pseudonym ab 1911 bis zu seinem Lebensende beibehielt: Blai­se Cendrars.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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