Essayistisch

Oft verletzt der Essay – im Unterschied zum Aufsatz, zur Abhandlung – formale, methodologische oder auch einfach logische Richtigkeiten; er mag rhetorisch noch so brillant, noch so kühn sein, argumentativ bleibt er zumeist schwach, begriffsschwach. Dem Essayisten geht’s indes keineswegs um begriffliches Argumentieren und Rechthaben, vielmehr um Erkenntnisgewinn durch uneigentliches Sprechen, um die Erschliessung von Einsichten und die Hervorbringung von Ideen im Vollzug der Arbeit am Text. Trotz seiner Nähe zum Narrativen und Poetischen, trotz – auch – seiner Begriffsstutzigkeit und faktischen Fehlerhaftigkeit überbietet die Essayistik der klassischen Moderne so gut wie alles, was gleichzeitig die universitäre Literaturwissenschaft geleistet hat. Was vermögen denn die grossen Lehrkanzelredner des vergangnen Jahrhunderts und selbst die Wortführer des Formalismus und Strukturalismus heute noch zu bewegen im Vergleich mit einem Paul Valéry, einem Walter Benjamin oder José Luis Borges, deren Essays – changierend zwischen Bekenntnis und Hintersinn, Nachdenklichkeit und spekulativem Furor – als Quellen der Anregung immer unerschöpflicher werden, während die «einschlägige Forschung» ihre einst aktuelle Schuldigkeit getan und darüber hinaus (für das Verständnis heutiger Literatur) keine Relevanz mehr beanspruchen, keine Anstösse mehr geben kann. Wer wollte Thomas Pynchon mit Emil Staiger, Andrea Zanzotto mit Benno von Wiese lesen?

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00