Fallweise

Der russische Dichter Daniil Charms (eigentlich Juwatschow, 1906–1942), der zu Lebzeiten – aus literaturpolitischen Gründen – nur für ein paar Kinderbücher Druckerlaubnis erhielt, ist erst Jahrzehnte nach seinem Hungertod in einem Leningrader Gefängnis einer breitern Leserschaft bekannt geworden. Durch diverse Werkeditionen und zahlreiche Übersetzungen ist er heute als ein Klassiker der europäischen Moderne ausgewiesen, und mehr als dies – er gehört inzwischen zu den populärsten Autoren der frühsowjetischen Avantgarde. Hierzuland ist Charms seit 1970 vorab durch seine anekdotische Kurzprosa (Vorfälle, 1936–1939) sowie durch ein viel gespieltes Bühnenstück (Jelisaweta Bam, 1927) bestens eingeführt, und seine attraktive Verortung zwischen Futurismus, Surrealismus und absurdem Theater hat ihm rasch zu internationaler Wertschätzung verholfen.
Wie berechtigt diese Wertschätzung tatsächlich ist, lässt sich – in deutscher Sprache – auch anhand einer umfangreichen Gedichtauswahl überprüfen. Unterm Titel Die Wanne des Archime­des wird die Charms’sche Wortkunst in all ihren Registern vorgeführt – vom saloppen Liebes- oder Säuferlied bis zum elegischen Abgesang auf Gott und die Welt. Was einem da vor Augen kommt, ist in erster Linie fürs Ohr bestimmt und bietet sich kraft 
seiner ausgeprägten rhythmischen und klanglichen Gestalt eher zum Vorlesen denn zum Nachlesen an. Die meisten dieser Gedichte unterscheiden sich nur der äussern Form nach, nicht aber thematisch und stimmungsmässig von Charms’ Kurzprosa. Fast durchweg sind sie narrativ oder dialogisch angelegt, das Personal besteht aus grob typisierten sowjetischen Normalverbrauchern, die jenseits aller Psychologie in ihrer dumpfen Niedertracht unter Allerweltsnamen wie «Iwan», «Maria», «Petrow», oft aber auch als dichterisches «Ich» vorgeführt werden.
Faulheit, Geilheit, Dummheit sind die hauptsächlichen Qualitäten dieser schimpfend und klagend und klauend und schlagend durchs Leben stolpernden Antihelden, mit denen es irgendwann, meist völlig untragisch, einfach «aus» ist – «aus», das heisst «Schluss», «Alles», «Nichts», «Null». Die Banalität des Sterbens beglaubigt hier die Sinnlosigkeit des Lebens, die Vergeblichkeit jeglichen Strebens. Man lebt dahin, man futtert und geniesst, bis die «tödliche Schwere» über einen kommt, die Taschenuhr das Ticken aufgibt, die Haare plötzlich sich lichten, die Ohren abfallen «wie im Herbst das gelbe Laub von der Pappel» – und dann ist man schlicht und einfach tot: «So, Schluss, fertig, aus!»
Auch die Gegenstandswelt von Charms’ Gedichten bleibt im Vergleich mit der Prosa weitgehend unverändert. Die dominierenden Elemente sind Luft und Wasser (Fluss, Meer), es wird auffallend viel geschwommen und geflogen, Ertrinken und Abstürzen sind ganz normale Todesarten. Die Welt ist ärmlich und gleichförmig möbliert: Berg, Ufer, Feld; Haus, Zimmer, Tisch; es gibt die Kuh und die Wanze, den Adler, die Fliege, den Fisch; zur Hand sind Axt, Säbel, Messer – alles scheint in Stücke zerlegt oder aus Stückwerk gefügt zu sein, monströs und lachhaft zugleich. «Die Welt ist Vielfalt», so heisst das Projekt des Forschers und Bastlers Fakirow: «Und diese schwierige Maschine», sagt er dazu, «hab ich gebaut aus Schrot und Gerste.»
Mit minimalistisch eingesetzten dichterischen Mitteln konterkariert Daniil Charms das stalinistische Sowjetsystem. Die kleine, 
meist offne und pointenlose Form bietet er auf gegen Monumentalität und Pathos, den Nonsens gegen die offiziell dekretierten Wahrheiten, den Einfall und den Zufall zieht er jeglichem Konzept vor. Der zunehmenden Tribunalisierung des Alltags begegnet er mit absurdem, präzis entlarvendem Humor, und den hölzernen Parteijargon unterläuft er mit seiner deftigen, oft stotternden, bisweilen jäh abbrechenden oder ins Unverständliche ausufernden Dichtersprache. Den Determinismus der Staatsideologie relativiert er durch die «cisfinite Logik» seiner Phantasie, die das dialektische Entweder-oder im Sowohl-als-auch poetischer Möglichkeitsformen auflöst: «Jetzt ist hier, und jetzt dort, und jetzt hier, und jetzt hier und dort. / Dieses werde jenes. / Hier werde dort. / Dieses, jenes, hier, dort, werde, Ich, Wir, Gott.» – Von der «Macht» zur Rede gestellt, antwortet der «Erdensohn» kurz und bündig: «Awla dindurí pre pre kru kru.» Und das will etwas heissen, nicht nur dort, wo ein auf Eindeutigkeit getrimmter Herrschaftsdiskurs wirksam ist, sondern auch heute und hier, wo die politische Rede mehr und mehr zur Beliebigkeit und Vorläufigkeit tendiert.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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