Falschrichtig

I

Was an einem literarischen Kunstwerk «falsch» – nicht bloss gefälscht – sein kann, ist im Unterschied zu wissenschaftlichen oder technischen Fehlleistungen oftmals schwer auszumachen und, noch schwerer, kritisch nachzuweisen. Autoren berufen sich gern auf ihre Narrenfreiheit, nicht nur in politischer oder ideologischer Hinsicht, nicht nur in ihrem sozialen Verhalten, sondern auch, und das macht die Sache umso komplizierter, in künstlerischen Dingen.
Dazu kommt, dass für manche Kunst- beziehungsweise Literaturströmungen der Normbruch, mithin die bewusste und gewollte Verfehlung dessen, was lange Zeit als richtig, womöglich auch als richtungsweisend galt, zum Programm gehört – Entkanonisierung als Innovationsprinzip. Solche Art von Falschheit, von Fehlern lässt sich in aller Regel problemlos erkennen, da sie im jeweiligen Werkzusammenhang entweder implizit angedeutet oder explizit gerechtfertigt und auf ein vormals «Richtiges», vielleicht gar als Regel Gefordertes bezogen wird, das nun als «falsch» zu gelten hat und dem «Andern», «Neuen» weichen soll.
So gegensätzliche Autoren wie Robert Walser und Antonin Artaud (vom späten Hölderlin zu schweigen) verdanken ihren literarischen Rang diversen «Fehlleistungen», die ihnen, mit grosser Verzögerung zwar, als besondre Qualitäten ihres Personalstils gutgeschrieben wurden. Ein Sonderfall – typisch gerade für die französische literarische Kultur – dürfte der Dichter Francis Ponge gewesen sein, der den Kunstfehler als etwas «Göttliches» zu rechtfertigen suchte und ihn, in welcher Form auch immer, gegen jeglichen Perfektionismus, gegen jede stilistische Brillanz provozierte als den Garanten «stetiger Unfertigkeit».
Nicht der gewollte, auch nicht der zufällig sich einstellende Fehler ist hier nun das Problem; problematisch ist vielmehr der 
ungewollt und unerkannt unterlaufende Fehler, der den künstlerischen Voraussetzungen des Werks – beispielsweise einer realistischen Erzählung, eines absurden Dramas, eines konkreten Gedichts – widerspricht und damit auch dessen Autor in Schwierigkeiten bringt als einen, der offenbar nicht weiss, was er macht, wenn er schreibt. Von diesem desavouierenden Vorwurf bleiben allenfalls der «naive», der «primitive», auch der «geisteskranke» Autor ausgenommen, deren «Fehler» ja keineswegs als störend empfunden, sondern als konstituierende Elemente ihres Personalstils akzeptiert werden.

II

Mitunter fällt es schwer, beabsichtigte und unterlaufne Fehler auseinanderzuhalten, entsprechend schwer dann auch, einen dichterischen Text als gelungen oder misslungen einzustufen, abgesehn davon, dass misslungene Texte durchaus gelungne Passagen enthalten können – oder umgekehrt. Ob ein Text gelungen oder misslungen sei, ist allerdings nicht allein anhand der «Fehler» auszumachen, die der Autor bewusst oder unbewusst hat stehen lassen. – Von Renato Arlati gibt es (in dem postum erschienenen Band An E., 2005) ein titelloses, vom 20. November 1998 datiertes Gedicht «Für Ruth», das diese Problematik sichtbar macht; es lautet wie folgt:

Dein Haar deckt mein Gesicht
Wenn ich erwache.
Ich schaue hilfesuchend
Auf das Fenster hin.
Dann steh’ ich auf
Und geh’ zu Dir.

Dieser kleine Text, der eine idyllische Horrorszene vergegenwärtigt, ist «fehlerhaft» in mehrfacher Hinsicht. Lexikalisch falsch ist der Gebrauch von «decken» im ersten Vers; «decken» lässt sich allenfalls ein Tisch oder, in nochmals andrer Bedeutung, eine Stute, eine Rassehündin, nicht jedoch ein Gesicht – richtig wäre hier «bedecken», weniger passend (aber doch zumindest korrekt) das Verb «zudecken». Stilistisch eher ungeschickt ist die Wiederholung «Auf das Fenster» und «steh’ ich auf» in zwei aufeinanderfolgenden Versen, ohne dass es dafür einen erkennbaren, etwa klanglich bedingten Grund gäbe. Verfehlt ist schliesslich die im Gedicht dargebotne Szenerie in ihrem zeit-räumlichen Zusammenhang. Wenn «dein Haar» in der Früh «mein Gesicht» bedeckt, wie könnte ich gleichzeitig – und warum «hilfesuchend»? – «auf das Fenster hin» schauen, und wie könnte ich dann «zu Dir» gehen, vermutlich also zu Ruth, die doch ganz in der Nähe sein muss und deren Haar eben noch «mein Gesicht» bedeckte?
Auch wenn mithin manches in und an diesen wenigen Versen fehlerhaft oder verfehlt ist – soll deshalb das Gedicht insgesamt als verfehlt gelten? Ein starkes Gedicht ist es sicherlich nicht, und es ist wohl auch nicht eins jener Gedichte, die bei aller Fehlerhaftigkeit ihre künstlerische Richtigkeit haben – wofür beliebig viele Beispiele andrer Autoren anzuführen wären. Im vorliegenden Fall stellt sich, wie mir scheint, diese «falsche Richtigkeit» auch nicht andeutungsweise ein. Das Gedicht «Für Ruth» lässt weder das Können noch das Wollen des Dichters erkennen. Ist es als Gelegenheits-, als Verständigungstext zu lesen? Wie wäre dann aber die – verfehlte? – Anrede an eine Person zu begreifen, die zugleich ganz nah und ganz fern ist; so nah, dass ihre Gegenwart als Bedrängnis, ihre Abwesenheit als Mangel empfunden wird?

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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