Freundschaft

Es war Sympathie auf den ersten Blick. Als René Char im Frühjahr 1946 erstmals mit Albert Camus zusammentraf, war ihm sogleich klar, dass damit «die Geburt und die Morgenfrühe einer Freundschaft» stattgefunden hatte: «Ich begegnete ihm, ich wusste, wir würden einen gemeinsamen Weg abzuschreiten haben.»
Char war damals 39, Camus 33 Jahre alt. Beide hatten sich durch frühe Meisterwerke bereits einen Namen gemacht, Camus 
durch die Erzählung Der Fremde und den Essay Der Mythos von Sisyphos, Char durch mehrere surrealistisch inspirierte Gedichtbücher. Beide hatten der Résistence angehört und setzten sich nach Kriegsende für die Erneuerung der europäischen politischen Kultur ein. Camus tat es vorab als Publizist und Stückeschreiber mit kämpferischem Einsatz gegen Rassismus, Kolonialismus, Wiederaufrüstung, Char als bewusst elitärer Dichter, der stets für Einzelne, für Wenige schrieb, dies in der Hoffnung, dass die von ihm angesprochene Minderheit sich früher oder später zum gemeinsamen Marsch vereinigen und so auf das intellektuelle wie moralische Klima Europas einwirken werde. Einig waren sich beide darin, dass nach den diktatorisch instrumentalisierten Massenbewegungen des Nationalsozialismus und des Stalinismus eine individualistisch geprägte Revolte vonnöten sei, für die jeder Einzelne im eignen wie im gemeinsamen Interesse für Wahrheit, Freiheit, Brüderlichkeit sich stark machen sollte.
«Nur um zu lieben, sollst du dich bücken.» René Chars Devise hat sich Albert Camus vorbehaltslos zu eigen gemacht. Doch den politischen und weltanschaulichen Übereinstimmung zum Trotz gab es zwischen den beiden Autoren auch gravierende Differenzen, die ihre langjährige Freundschaft durchaus hätten gefährden können. Dem weltoffenen und weltgewandten, wiewohl körperlich fragilen Albert Camus stand als monumentale Gestalt der in sich gekehrte, eigensinnige, oft auch abweisende René Char gegenüber. Während jener unentwegt zwischen Skandinavien und Südamerika auf Reisen war, sich als Journalist exponierte und oftmals polemische Debatten zu bestehen hatte, blieb dieser seiner provenzalischen Heimat zeitlebens treu und verharrte nicht nur dem Ausland, sondern auch Paris gegenüber in geradezu feindseliger Abneigung – sein fernstes Ausflugsziel scheint in all den Jahren das Elsass gewesen zu sein.
Dazu kam, schwerwiegender noch, die offenkundige Unvereinbarkeit des literarischen Selbstverständnisses der beiden Freunde. Hier Camus, der mit leichter Hand «engagierte» Texte 
für ein breites Publikum schrieb, der schon 1947 mit dem Roman Die Pest einen Welterfolg verbuchen und zehn Jahre danach den Nobelpreis entgegennehmen konnte; dort Char, der als «hermetischer» Dichter nur wenige Leser anzusprechen vermochte und der literarische Ehrungen grundsätzlich ablehnte. Womöglich waren es gerade diese Unvereinbarkeiten, die dieser Freundschaft Halt und Dauerhaftigkeit verliehen: Nicht die höfliche Harmonisierung von Unterschieden und Gegensätzen war ihre Prämisse, sondern die wechselseitige Akzeptanz der Andersartigkeit.
Auf durchweg anrührende, dabei zutiefst überzeugende Weise hat sich der «gemeinsame Gang» der beiden Freunde niedergeschlagen in rund 200 Briefen, die zwischen 1946 und 1958 ausgetauscht wurden und die, ergänzt durch andere Dokumente, seit 2007 im Druck vorliegen. Anrührend ist die unwandelbare Zartheit, sogar Zärtlichkeit, mit der die beiden Korrespondenten, deren herbe Männlichkeit und polemische Veranlagung vielfach bezeugt sind, einander begegnen. Über all die Jahre hin bestätigen sie einander ihre Zuneigung immer wieder als eine unverbrüchliche Form von Brüderlichkeit. Camus: «Ich weiss, wir sind einander ähnlich im Schweigen, in unsern Absenzen – und auch in dieser Art von Unglück, das wir Tag für Tag zu schlürfen haben und gegen das anzukämpfen so schwierig, so ermüdend ist, wenn die Jugend schwindet und mit ihr die Kraft der Arroganz, der Gleichgültigkeit.» – Char: «Sie fehlen mir. Diese Worte erübrigen sich vielleicht im Mund eines Bruders. Doch nein, sie müssen ausgesprochen werden, denn das Antlitz wird sich zuletzt seiner selbst nicht mehr gewahr im Nebel des illusorischen Gehalts eines jeden Tags, den man ungenutzt hat verstreichen lassen …» – Wer würde heute, falls überhaupt, sich solcher Sätze bedienen, um Nähe herzustellen, um Vertrauen zu bekräftigen?
Auch von Liebe ist in dieser Korrespondenz immer wieder die Rede, von jener einzigen Macht mithin, der man – vorzüglich als Mann – sich zu beugen hat. «Lieben, nicht lieben? Was für ein endloser Taumel …», schreibt Char an Camus: «Und niemals 
kann man zwei bleiben. Sobald man endgültig zwei ist!.. Reicht das aus? Man weiss es nicht mehr. Man dauert fort.» Und Camus zur Antwort: «Ja, ich glaube zu verstehen … Wer sich liebt, müsste gemeinsam geboren sein. Doch liebt man besser nach Massgabe dessen, was man gelebt hat, und das Leben selbst ist’s, das uns von der Liebe trennt. Einen Ausweg gibt es nicht, es sei denn der glückliche Zufall, ein Blitz oder – der Schmerz.»
Diskret und verlässlich markieren die Freunde ihre Präsenz, wenn familiäre, gesundheitliche, berufliche Probleme anstehn, jeder solidarisiert sich mit dem andern, wenn er – was bei Camus häufig, bei Char eher selten der Fall ist – öffentlich angegriffen, persönlich oder literarisch verunglimpft wird, und selbst die grossen Erfolge, an denen Künstlerfreundschaften so oft scheitern, können hier nicht zum Problem werden. Man belobigt und beglückwünscht sich weitab von Neid, Misstrauen, Eigeninteressen, man verzichtet auf jegliche Phrasenhaftigkeit, die Wertschätzung findet in schlichten Worten authentischen Ausdruck. Camus an Char (zu Zorn und Geheimnis, 1948): «Ein Wort nur, um Ihnen meine Freude zu sagen und um zu wiederholen, dass dies das schönste Gedichtbuch unsrer unseligen Epoche ist. Mit Ihnen wird das Gedicht ein Mut, ein Stolz. Letztlich kann man es nehmen zum Leben.» Und später (zu Chars Lyrikbuch Die Bibliothek steht in Flammen, 1956): «Was aus uns werden soll, ist eine Frage ohne Sinn. Wir sind geworden. Ich weiss es, wenn ich Sie lese.» Anderseits Char (über Das Exil und das Königreich, 1957) an Camus: «Keine Leerstelle, kein Loch. Was für ein Weber Sie sind! Das schlägt ins Gedächtnis wie ein Trommler und Parolenschmuggler, eine Geschichte, viele Leben und eine Geographie breiten sich hier aus, unwiderruflich. – Pardon, dass ich mich ein bisschen fahrig ausdrücke. Trotz des Tam-tams wird dennoch meine Freude Sie erreichen.»
Zu solchen privaten Äusserungen bilden die Texte, welche Camus über Char und Char über Camus publiziert hat, die unmittelbare Entsprechung – nichts wird vor der Öffentlichkeit zurück
genommen, nichts überzeichnet. «In der fremdartigen und kraftvollen Dichtung, die Char uns vorlegt, kommt unsre Nacht selbst zum Leuchten, und wir lernen erneut zu gehen», heisst es in einem späten Essay von Albert Camus: «Dieser Dichter, der allen Zeiten zugehört, spricht genau für die unsre.» Und in seinem Nachruf auf den allzu früh verstorbnen Freund – Camus kam 1960 bei einem Autounfall ums Leben – schreibt René Char: «Mit dem, den wir lieben, haben wir zu sprechen aufgehört, und es gibt das Schweigen nicht. Was also hat es auf sich? Wir wissen oder glauben zu wissen. Doch nur dann, wenn die Vergangenheit, die bedeutet, sich auftut und ihm den Durchgang freigibt. Da ist er nun auf unsrer Höhe, dann fern, vorn.»
Der Brief- und Schriftwechsel zwischen Camus und Char bezeugt nicht bloss eine ungewöhnliche Männerfreundschaft, er dokumentiert auch ein Stück Zeitgeschichte, das vom Kriegsende in Europa, dem Ersteinsatz der Atombombe in Japan und dem Koreakonflikt bis zur Entstaliniserung der UdSSR, zum antisowjetischen Aufstand in Ungarn und zum Höhepunkt des Algerienkriegs reicht. Zudem belegt er die kontroverse Rezeption der beiden Autoren in Frankreich, vorab Camus’ jahrelange Fehde mit Pia, Mauriac und Sartre, aber auch Chars Bedrängnis durch eine nachrückende jüngere Dichter- und Kritikergeneration, welche mit ihm kaum noch etwas anzufangen wusste.
Inzwischen sind beide, Char wie Camus, durch ihre Aufnahme in die «Bibliothèque de la Pléïade» als Klassiker der Moderne kanonisiert worden, und man kann sich nur wundern, wie schwer sie sich einst mit den Attacken ihrer Gegner und, nicht zuletzt, mit sich selbst getan haben. Namentlich Albert Camus hat sich, auch noch als Nobelpreisträger, immer wieder verunsichern lassen und kam gegenüber René Char des öftern ins Grübeln über Fug und Unfug seiner Schreibarbeit, ja, er entwickelte, seinem Weltruhm zum Trotz, eine Art von Verfolgungswahn, der im Winter 1957/1958 zu pathologischen Angstzuständen führte. Auch in dieser Krise konnte Camus sich auf seinen Freund verlassen. «Je 
mehr ich produziere, desto unsicherer bin ich», heisst es in einem seiner diesbezüglichen Briefe an Char: «Auf den Weg, den ein Künstler abschreitet, senkt sich, stets dichter werdend, die Nacht. Am Ende stirbt er blind. Mein einziger Glaube ist, dass ein Licht ihm innewohnt, das er selbst nicht sehen kann, das aber gleichwohl strahlt. Doch wie könnte man sich dessen sicher sein. Eben deshalb muss man sich auf den Freund stützen können, der weiss und versteht und der im gleichen Schritt einhergeht.»

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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