Gebet

Erneuter Lektüreversuch mit Jean-Jacques Rousseaus Bekennt­nissen und dem Erziehungsroman Emil. Einst haben diese Texte einen völlig neuen Diskurs begründet, der sich in allen europäischen Literaturen durchgesetzt und einige Epochen überdauert hat. Mein jetziger Leseeindruck, gewonnen nach ein paar hundert Seiten, ist ebenso desolat wie bei der ersten (damals obligatorischen) Lektüre kurz vorm Abitur. Die beiden Texte sind, graphomanisch überanstrengt und emotional allzu ausgelassen, ungeniessbar geworden und bieten nur mehr historisches Interesse. Denn das, was einst revolutionär war, nämlich die Unverschämtheit des Ichtuns und Ichsagens, ist heute gang und gäbe, so dass sich Rousseaus Innovationsleistung kaum noch nachvollziehn lässt. Ein marginales Detail, das mir beim ersten Lesen des Emil offenbar entgangen ist, habe ich diesmal am Textrand markiert; es ist jene Stelle, wo Rousseau von einer alten Frau berichtet, die nur ein einziges Gebet gekannt und es inbrünstig stets von neuem wiederholt habe: «Oh!» In diesem einen Selbstlaut, in diesem offnen O, in diesem zahnlosen Mund finden der Horror, die Ehrfurcht, das Staunen vorm Heiligen ihren authentischen Ausdruck, wo doch sonst bei Rousseau jede Authentizität zunichte gemacht wird durch seine rhetorisch forcierte Natürlichkeit.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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