Geheimnislos

Robert Walsers gewaltiger Nachruhm geht wohl ursprünglich auf die hohe Wertschätzung zurück, die Franz Kafka für ihn gehegt und einst auch bündig festgehalten hat, nicht ahnend, dass in fernerer Zeit jede Notiz von seiner Hand jeden ihrer Gegenstände adeln, wenn nicht heiligen würde.
Walsers beiläufige Kanonisierung durch Kafka und sehr viel später sein einsamer Tod im Neuschnee bei Herisau haben ihm ein ambivalentes, dabei höchst einprägsames Image eingebracht, das ihn gleichzeitig als «gross» und «klein» ausweist; als einen Autor von einzigartiger Statur und Stimme, der aber nicht auf seinen Erfolg, vielmehr auf sein Verschwinden hingearbeitet und dafür eigens die Textsorte der Mikrogramme entwickelt hat, in denen auf vielen hundert Seiten sein Spätwerk verschlüsselt aufbewahrt blieb.
In seltener Einmütigkeit zieht Walser wissenschaftliches Interesse und überschwängliche Sympathien auf sich; er gehört inzwischen zu den raren Lichtgestalten, die sich in der neueren Literaturgeschichte haben etablieren können. Als weithin anerkannter Klassiker der Moderne werden ihm und seinem Werk Qualitäten wie Menschlichkeit, Bescheidenheit, Freundlichkeit, Humor, Naivität, Hintergründigkeit bescheinigt. Selbst sein Schweizertum, sein Hang zur Idylle, seine stilistischen und rhetorischen Unbeholfenheiten gelten hier als Vorzüge einer Kunst, die dem Natürlichen anscheinend näher ist als dem Künstlichen.
Doch man bleibt unentwegt auf der Suche nach dem Unheimlichen, Rätselhaften, vielleicht gar Tragischen, das hinter seinen eher harmlosen erzählerischen Permanentszenen vermutet wird. Das, was bei Walser im Text steht, scheint nicht wirklich hinzureichen für den «Klassiker», den man in ihm zu erkennen meint und den man als solchen hochhalten möchte.
Was ist denn aber jenes Andere, jenes Fehlende, das sich dahin­ter verbirgt und das die eigentliche Dimension, die höhere Bedeu
tung seines Werks ausmachen soll? Viele kritische Register, von der Psychoanalyse bis zur Literatursoziologie, sind gezogen worden, um jene Tiefendimension auszuloten, und doch scheint noch kaum etwas zutag gefördert worden zu sein, das Walsers literarhistorischen Rang glaubhaft bestätigt. Auch die geheimschriftlichen Mikrogramme haben sich als geheimnislos erwiesen und lassen eher darauf schliessen, dass bei Walser «nichts» dahinter ist, das der Erhellung oder Auslegung bedürfte und …
… aber eben dies könnte, denke ich, das wirkliche Geheimnis dieses Autors sein – dass er eben kein Geheimnis hat; dass seine Texte tatsächlich nichts andres bedeuten als das, was Schwarz auf Weiss dasteht; dass ihr ganzer Sinn in ihrer nicht hintergehbaren Vordergründigkeit aufgehoben ist.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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