Gerufen

Eins der ersten literarischen Projekte Samuel Becketts war ein Stück über die letzten Lebensjahre von Samuel Johnson. Der Impuls zu diesem nie verwirklichten, aber durch umfangreiche Vorstudien und Entwürfe dokumentierten Projekt entsprang der eher trivialen Tatsache, dass sich Beckett wegen der Gleichheit der Vornamen zu Johnson hingezogen fühlte. Nicht die oft bemühte Magie des Namens dürfte hier das auslösende Moment gewesen sein. «Sam» ist dafür zu prosaisch, kommt viel zu häufig vor, um bezaubern zu können.
Was also könnte Beckett an der Namensgleichheit fasziniert haben?
Dies vielleicht, dass der Eigenname stets eine Einzelperson bezeichnet, obwohl er als Name keineswegs einmalig ist. Viele hören auf ihn, und alle, die ihn tragen, werden sich persönlich angesprochen fühlen, wenn er verwendet wird. Beide, Samuel Johnson wie Samuel Beckett, wurden auf den gleichen Namen getauft, wurden individuell bei diesem Namen gerufen und reagierten individuell darauf.
Jeder Eigenname muss aber mit andern Trägern geteilt werden, ist folglich so etwas wie ein Oberbegriff für all jene, die ihn jemals getragen haben, und doch gehört er jedem Träger einzeln und glei­chermassen an. Woraus sich tatsächlich eine Art von Verwandtschaft ergeben kann, vorab dann, wenn man die Namen nach ihrer Bedeutung befragt und sie gleichsam als Programm versteht.
Wer Samuel heisst, ist «von Gott erhört». Vielleicht wollte der junge Beckett durch seine Beschäftigung mit dem späten Johnson dieses Programm ergründen und daraus Schlüsse ziehn für sein künftiges dichterisches Sprechen; sein Ableben auch.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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