Homunculus

Paul Valéry hat in einem seiner Hefte den Menschen als jenes Wesen charakterisiert, das bei jedwedem Tun «gleichzeitig denkt und an etwas anderes denkt». Diese Zerstreuung sei es, die den Menschen so grundsätzlich vom Tier separiere, «dieses Gefühl oder diese Notwendigkeit, der auch unsere ganze Geschichte entspricht, indem sie zur Antwort wurde auf die ruhelose Unmöglichkeit, zu sein, was man ist». Hat nicht deshalb die Philosophie, dem «wilden» mythischen Denken sich entwindend, schon in ihrer Frühzeit das Projekt eines andern Menschen initiiert, das heute von der Gen- und Computertechnologie in immer rascheren Entwicklungsschritten der praktischen Verwirklichung nähergebracht wird? Denn tatsächlich hätte der vollkommen programmierte und unfehlbar programmierbare Mensch – nunmehr zur Totalprothese mutiert – seine souveränste Emanzipation gegenüber dem Tier erreicht. So wäre er dem Hund in sich selbst definitiv entrückt, hätte seine Restnatur verloren, den Zustand unvermischten Menschseins gewonnen. Offen bleibt allerdings die Frage, welchen Status dannzumal jener Andere mit Bezug auf sein Menschsein haben würde – wäre der voll computerisierte Homunculus das, was der antiquierte Mensch «selbst» gerade nicht zu werden vermochte? Oder umgekehrt das, was er – die doppelte Negation macht durchaus Sinn – nicht nicht werden konnte?

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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