Kriegswelt

Als 48seitige Broschüre brachte Wladimir Majakowskij im Revolutionsjahr 1917 sein grosses Gedicht Krieg und Welt heraus, dessen Titel im Russischen gleichlautend ist mit «Krieg und Frieden», was wiederum – vom Autor sicherlich gewollt – auf das entsprechende Romanepos des Grafen Lew Tolstoj verweist, das in mehreren Bänden zwischen 1865 und 1869 erschienen war. Auch Tolstoj hatte allerdings den einprägsamen, durch ihn in die Weltliteratur eingeführten Werktitel nicht selbst geprägt, sondern wörtlich von dem französischen Publizisten Pierre Joseph Proudhon übernommen. Mit (Krieg und Welt) ist inzwischen auch, ohne dass damit ein relevanter Bezug zu Tolstoj oder Majakowskij impliziert wäre, ein weitläufiges Prosabuch betitelt, das der Lyriker, Übersetzer und Essayist Peter Waterhouse 2006 vorgelegt hat.
«Krieg» und «Welt» sind hier gemeinsam in eine Klammer gefasst, als gehörten sie naturgemäss zusammen – die Welt als ständiger Kriegsschauplatz, der Krieg als dynamisches Weltmodell. Gleichzeitig werden Welt-Krieg und Kriegs-Welt aber auch aus­geklammert – doch wovon? Vielleicht aus einer utopischen Welt ohne Krieg; vielleicht auch aus dem antiutopischen «Krieg der Welten», den man, schwankend zwischen Horror und Faszination, aus der Science Fiction kennt.
Bei Waterhouse hat «Krieg», hat «der Krieg», hat «ein Krieg» eine ständige, ständig sich wandelnde Präsenz. Man lebt in Kriegs-, in Vorkriegs-, in Nachkriegszeiten; man lebt, indem man «kriegt»; es gibt Ehekriege, Familienkriege, Bandenkriege, Religionskriege, Sprachenkriege, es gibt den Krieg der Kulturen, und all diese Kriege verschränken sich zum permanenten Welt-Krieg, der als ein ganz gewöhnlicher und gerade in seiner Gewöhnlichkeit besonders horrender Krieg sich auslebt und an dem niemand nicht beteiligt ist.
Vordergründig und am leichtesten nachvollziehbar geht es in (Krieg und Welt) um reale und mögliche Kriege in der Erinnerung des Erzählers an seinen Vater, der zur Zeit des Kalten Kriegs, als britischer Geheimagent oft in Krisengebieten unterwegs, in kriegerische Handlungen involviert war, ohne dem Sohn jemals explizit darüber berichtet zu haben. Umso erschreckender waren die Kriegs-Ahnungen und Welt-Vorstellungen, die das Kind aus dem väterlichen Verschweigen, Verdrängen, Vertrösten gewann und die in der Folge nachhaltig sein Weltverständnis, sein Menschenbild prägten, vor allem aber seine fundamentale Skepsis 
gegenüber jeder Form von instrumentalisiertem und automatisiertem Sprachgebrauch, wie er vorzüglich in der Politik, der Publizistik, der Wissenschaft, aber auch, immer mehr, in der Literatur gepflegt wird.
Doch auch sich selbst kann der Erzähler, der im Roman bald in Ich-, bald in Er-Form auftritt, nicht aus den alltäglichen Kriegsereignissen heraushalten. Diese holen ihn unabwendbar ein als banale Konflikte und Irritationen, als Lügen und Intrigen, als Krankheiten und persönliche Katastrophen. Und auch als Wort holt der Krieg den Erzähler ein. Holt er ihn heim in seine Welt?
Der Erzähler hat ein Lehrbuch der russischen Sprache aus dem Nachlass seines Vaters unter der Hand, es ist ein Sprachführer für amerikanische Soldaten, herausgegeben vom War Department in Washington D.C. 1943. Der Sohn, dessen Vatersprache das Englische ist, lernt nun aber nach diesem Sprachführer nicht Russisch, er lernt Amerikanisch, lernt das, was er ohnehin versteht, nur aber nicht begreift. Und unversehens geraten ihm Vater- und Muttersprache durcheinander, das englische Wort für «Krieg», war, liest sich gleich wie die deutsche Vergangenheitsform war zum Hilfsverb «sein». In der Erinnerung wird der Leser plötzlich eins mit dem Krieg, er selbst war «war». Nicht wahr?
«War das ein Finden im Verlieren?.. Wer war ich dort … War ich der, der an das Militär dachte, an das amerikanische Kriegsministerium, an die amerikanischen Soldaten?» Wohl schon: «Ich dachte an die amerikanischen Soldaten, doch was sollte ich denken?» Denken und/oder an etwas Denken sind so unterschiedliche Dinge wie Schreiben und/oder über etwas Schreiben. Waterhouse gehört in die Genealogie jener sprachskeptischen Autoren, denen die Nachträglichkeit jeglichen Besprechens und Beschreibens zum stetigen Defizit wird, zu einer abgründigen Lücke nicht nur zwischen Sprache und Welt oder Sprechen und Erleben, sondern auch zwischen Wort und Bedeutung. «Etwas mitteilen, nein, nein. Der Natur konnte ich vertrauen, sie war ohne Mitteilung, 
nur Sprache, nur Anwesenheit. Da. Baum, enormes Wort ohne Mitteilungen.»
Die Lücke offenbart sich dem Erzähler besonders schmerzlich im Angesicht des Tods. Mit dem Tod einer Frau, die vielleicht seine Frau und die Mutter seiner Kinder ist, kommt er zu einem Ende, das keinerlei Rhetorik mehr zulässt, das die Sprache aufs Stammeln und Raunen zurückverweist, auf einfachste Wörter und deren vielfache Wiederholung: «… wir alle müssten jetzt hören das Wort Mama …», jetzt, da die Mutter tot ist, tot daliegt, «stiller als still», und dennoch spricht, schon nicht mehr in artikulierten Worten spricht, «nicht verständlich», aber in diesem Sprechen vor aller Sprache ist «ein bisschen Vogelgesang und Wasserrauschen und Windsausen und Kinderstimmen und Eisenbahngeklapper auf einem Viadukt und Bienengesumm und Radiomusik und Schiffssirene und Wiegengesang und Kinderweinen und Sprechen im Schlaf und reden in Träumen und Lispeln und etwas ganz Leises.»
(Krieg und Welt) ist ein grosses, ganz leises Buch, bei dem es weniger auf das Erzählte denn auf das Erzählen ankommt. Der Erzählfluss kennt keine Linearität, also auch keine Chronologie, und selbst die Kausalität der Abläufe wird bisweilen ignoriert. Das Erzählen ist hier ein begriffsstutziges, alogisch sich auslebendes Sprechen, das sinnliche Wahrnehmungen, kindliche Erinnerungen, Traumbilder, Lesefrüchte, Reflexionen, Spekulationen und, vor allem andern, Fragen über Fragen in seinem breiten mäandernden Fluss mit sich führt und nach sich zieht. Brüche gibt es trotz häufigem Perspektivenwechsel nicht, Rückblenden und Schwenks erfolgen in fliessenden Übergängen. Über fast 700 Seiten entfaltet sich (Krieg und Welt) als ein träg und traurig dahinströmendes Prosagedicht, seine Länge erfordert, da spannende oder auch bloss unterhaltsame Momente völlig fehlen, eine entsprechend langsame Lektüre. Den heute oft zitierten und gern befolgten Slogan, wonach in der Literatur sämtliche Genres erlaubt seien ausser dem langweiligen, verkehrt Peter Waterhouse souverän 
in sein Gegenteil. Die lange Weile ist unerlässlich (und ist ein nachhaltiger Gewinn) dort, wo Literatur sich als Sprachkunst behauptet; wo Spannung nicht im Plot entsteht, nicht zwischen Erzählangebot und Lesererwartung, sondern – wie bei Proust, bei Musil – zwischen der luziden Architektur komplexer Sätze und einem vagen, über weite Strecken trivialen Romanstoff.
Langweilige, langatmige Texte der Art und Qualität von (Krieg und Welt) haben den nachteiligen Vorzug, dass sie einzig durch aufmerksame Lektüre sich erschliessen lassen; dass ihre Tiefe (Bedeutung) an der Oberfläche (Sprachform) liegt; dass sie also nicht – im Unterschied zu fast allem, was uns sonst an Literatur erreicht – in ein paar Sätzen resümiert werden können und damit dann auch erledigt sind. Wo es, wie hier, keinerlei inhaltliche Highlights als Referenzpunkte gibt, an die man sich halten könnte, lässt sich die Lektüre nicht diagonal absolvieren. (Krieg und Welt) will geduldig abgefragt, Satz für Satz ausgehorcht sein.
Beim Hinhören auf den monotonen Erzählfluss erfährt man freilich mehr Irritation denn Erleuchtung. Sätze, die man unterstreichen, sich merken möchte, gibt es kaum, eher fühlt man sich bisweilen gedrängt, ein Fragezeichen an den Textrand zu setzen – Zeichen dafür, dass man lesend vor Ort war, dass man bei diesem oder jenem Satz eingehalten, ihn bedacht und vielleicht mit einer Frage beantwortet hat. Zum Beispiel hier: «Ging die Sprache unter, aber hier auf der Strasse wurde etwas anderes gesungen, ungefähr ban bin la tele tali?» Oder hier: «Auf der Hochebene der Tonkrüge war alles, was niemand kaufen kann, alles, was niemand haben kann oder mitbringen kann.» Und noch: «Das Geschenk war mir geschenkt wie mit dem Satz oder der Bitte: Lies das.» Tolle! Lege!

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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