Kritikaster

Wenn Julien Gracq der meinungsbildenden Kritik vor einem halben Jahrhundert vorwerfen konnte, einer «Literatur für den Magen» das Wort zu reden, hat dies auch – unter mehreren Gesichtspunkten – für das zeitgenössische Rezensionswesen seine Richtigkeit. Der «Magen» steht hier einerseits für Lebensnähe und Welthaltigkeit, anderseits für Bekömmlichkeit, leichte Verdauung sowie positive Wirkung (etwa als Spass, Spannung, Unterhaltung, Information, Aufklärung, Überraschung usf.) – weder das eine noch das andre hat notwendigerweise mit Literatur als Kunst zu tun, beides könnte auch durch Textsorten wie Essay, Reportage, Autobiographie geleistet werden.
Doch tatsächlich bewegen sich heute literarische Genres wie die Erzählung, der Roman mehrheitlich auf dem ausserliterarischen Terrain der Erfahrungsberichtserstattung und damit «hart an der Wirklichkeit», was nicht allein ihre Authentizität, sondern auch ihren Wahrheitssanspruch erhöht, dies bei gleichzeitigem, eben dadurch bedingtem literarischem Qualitätsschwund. Rezensenten scheint das nicht anzufechten; für viele, die meisten von ihnen besteht ein gutes Erzählwerk schlicht aus (Originalzitat:) «Menschen aus Fleisch und lebendiger Prosa», ist mithin ein hybrider Text-Körper, gleichermassen durchpulst von Menschenblut und Druckerschwärze.
Wo die Lebenswirklichkeit so nah ist, ist auch der literarisch versorgte «Magen» nicht fern, und es darf vom «Sahnehäubchen» 
oder von der «Kraftnahrung» geredet werden, welche dieser Autor, jene Autorin anzubieten hat, von einem gewaltigen Roman, den man – als Rezensent wie als Leser – «begierig wie kräftigen Bouillon schlürft», von grandiosen Erzählungen, die «eindeutig Suchtpotential haben» oder von einer grossartigen Autorin, die «eine Sprache für alle Sinne» schreibt, so dass man – Leser oder Rezensent? – «die Klänge auf der Zunge riecht, schaut, fühlt, hört und spürt». So nah am Magen wird keineswegs nur in der literarischen Provinz geschrieben; so liest man’s bei wortführenden Kritikern in den grossen deutschen Feuilletons. Aber mit der Zun­ge Klänge zu schauen – so viel Synästhesie ist da wie dort sicherlich zu viel des Guten.
Unmissverständlich lässt sich aus derartigen kulinarischen Empfehlungen schliessen, dass die dafür einstehenden Kritiker nur noch über ihren «Geschmack» zu Urteilen kommen, doch sind Geschmacksurteile, wie man weiss, blosse Meinungsäusserungen ohne jede objektive Relevanz. Jedermann hat, bis zur Geschmacklosigkeit, seinen eignen Geschmack, jeder mag sich seines Geschmacks sicher sein und sich daran erfreuen, aber eine Literaturkritik, die den Geschmack zu ihrem zentralen Kriterium macht und sich damit jeglicher argumentativen Verantwortung entzieht, steht wohl tiefer in der Krise als jene allzu «schwierige» Literatur, die dem rezensentischen Durchschnittsgeschmack nicht zu entsprechen vermag.
Ich verkenne nicht, dass der subjektive Faktor in der literarischen Tageskritik seine Berechtigung hat; denn die eigne Leseerfahrung ist als solche naturgemäss nicht falsifizierbar und kann durchaus auch für Aussenstehende von Interesse sein – nur sollte sie nicht, in Form von Privatmeinungen und Geschmacksurteilen, als ästhetisches Kriterium zur Umgehung analytischer Anstrengung eingesetzt werden. «Unsre Aktivität», so gibt’s der Kritiker Jean Rousset zu bedenken, «gehört zu denen, welche das zugreifende Subjekt schlecht zu trennen wissen vom zu ergreifenden Gegenstand.»
Objektivität ist demgegenüber nur dann – zumindest in der Annäherung – zu erreichen, wenn der Kritiker, statt von sich als Person auszugehn, vom jeweils vorliegenden «Gegenstand» ausgeht, wobei dessen Eigenart (Konstruktion, Intention usf.) Vorrang haben sollte vor subjektivem Gefallen, Mitgefühl, Ärger und sonstigen Emotionen. Was an dem zu besprechenden Werk objektiv fassbar ist, sind seine sprachliche Materialität und literarische Machart, deren kritische Bestandsaufnahme das Verständnis, die Würdigung, die Wertung des Werks überhaupt erst ermöglicht.
«Ich kann nicht leugnen, mein Misstrauen gegen den Geschmack unsrer Zeit ist bei mir vielleicht zu einer tadelnswürdigen Höhe gestiegen» – ich gestehe es mit den Worten Georg Christoph Lichtenbergs, der den deutschen Literaturbetrieb in den späten 1770er Jahren wie folgt charakterisiert hat: «Täglich zu sehen wie Leute zum Namen Genie kommen, wie die Keller-Esel zum Tausendfuss, nicht weil sie soviele Füsse haben, sondern weil die meisten nicht bis auf 14 zählen wollen, hat gemacht, dass ich keinem mehr ohne Prüfung glaube.» So auch – mit Verlaub – ich.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00