Labyrinthisch

I

Nebst einer Vielzahl von literaturtheoretischen Schriften hat Maurice Blanchot rund ein Dutzend Prosawerke – Romane, Erzählungen – verfasst, die unter Kennern hoch geschätzt und gern zitiert werden, ansonsten aber als schwer verständlich, wenn nicht als unlesbar gelten. Die Schwierigkeit besteht darin, dass diese Texte nicht im Nachvollzug eines bestimmten Handlungs- oder Bedeutungszusammenhangs zu rezipieren sind. Denn alles, was da geschrieben steht, bleibt der externen Wirklichkeit auf merkwürdige Weise enthoben, bildet eine eigengesetzliche Sprachwelt, die wiederum ihren eignen Wirklichkeitsstatus hat. Der Leser kann sich deshalb nicht auf ein Textverständnis verlassen, das sich – wie bei konventionell erzählender Prosa üblich – auf den Nachvollzug dessen beschränkt bliebe, was als Handlungs- und Bedeutungszusammenhang vorgegeben ist, auf das also, was von einem entsprechenden Plot resümiert beziehungsweise interpretativ erschlossen werden kann. Die Schwierigkeit des Verstehens rührt im Umgang mit solchen Texten ganz einfach daher, dass es letztlich nichts zu verstehen gibt, dass das Geschriebne nie ganz gelesen ist, also immer zu lesen bleibt und dass es – um irgendeinen Sinn zu gewinnen – durch spontane Assoziation ergänzt, erhellt, entfaltet werden muss.

II

Bei Blanchot bleiben dem geneigten Leser Geschichten, die örtlich und zeitlich bestimmbar, psychologisch oder weltanschaulich plausibel wären, konsequent vorenthalten. Hier soll gerade nicht Verständigung, vielmehr Unverständlichkeit durchgesetzt werden. Das ist, da sich Sprache nie gänzlich von Bedeutung abkoppeln lässt, ein problematisches Unterfangen. Blanchots durchweg rätselhafte, bisweilen geradezu verstörenden Erzähltexte sind denn auch auf produktive, ja spekulative Lektüre angewiesen und verlangen demzufolge nach einem Leser, der die Schwierigkeiten des Verstehens zu nutzen weiss, indem er sie durch eigenmächtige Sinngebung zugleich unterläuft und überbietet.

III

Gelegenheit zu solcher Lektüre bietet neuerdings, erstmals auf deutsch, die grosse, vom Autor als récit bezeichnete Erzählung Im gewollten Augenblick (Au moment voulu, 1951), ein bislang kaum beachteter, von Meisterwerken wie Thomas der Dunkle (1950) und Der mich nicht begleitet hat (1953) gleichsam verschatteter Text, der aber nicht weniger eindrucksvoll und ebenso befremdlich Blanchots unverwechselbare Schreibbewegung hervortreten lässt. Das Prosastück ist als innerer Monolog angelegt. In fahriger Alltagssprache, bisweilen fast röchelnd hält ein namenloses Ich fest, was ihm hier und jetzt geschieht. Dieses Ich – «Herr des Redens» – wird weder als Gestalt noch als Charakter fassbar, selbst seine geschlechtliche Identität bleibt uneindeutig. Was da spricht, ist eher ein Man denn ein Mann, es ist ein konvulsives Bündel von Gedanken und Gefühlen, die abwechselnd zu Wort kommen, und zwar so, dass sie mit dem redenden Ich von Fall zu Fall identisch werden. Dieses spricht also nicht – zum Beispiel – über sein Entsetzen, sein Begehren, seinen Schmerz, vielmehr ist es, was es bespricht: ganz Wut, ganz Angst, ein Empfinden, eine Idee, «genau so gross wie ich». Man denkt an Monsieur Teste, jenen ebenso genialen wie idiotischen Kopffüssler, den Paul Valéry zur intellektuellen Schlüsselfigur der Moderne gemacht hat. «Und wer war ich anderes», heisst es entsprechend bei Maurice Blanchot, «als dieser Abglanz einer Gestalt, die nicht sprach und zu der niemand sprach, die nur dazu fähig war, gestützt auf die terminlose Stille des Draussen, von der anderen Seite einer Scheibe aus still die Welt zu befragen?»

IV

Zwei Frauengestalten – Freundinnen? Schwestern? Doppelgängerinnen? – sind dem anonymen Icherzähler zugeordnet. Dieser hat sie mit den Namen Claudia und Judith bedacht, vielleicht sind sie überhaupt nur einfach seine Erfindung, ganz Idee wie er selbst. Nie gewinnen die beiden Frauen fassbare Gestalt, ihre physischen und psychischen Konturen scheinen ineinander zu verschwimmen, bloss momentweise wird gleichsam in Nahaufnahme eine Geste, ein Gesichtsausdruck festgehalten. Diese figurative Unbestimmtheit steht in auffallendem Kontrast zur enormen, ja monströsen Intensität, die der Erzähler im Umgang mit den Frauen entwickelt und die vorab, in schier endloser Wiederkehr, durch «Schauder», «Staunen», «Kampf» geprägt ist. – Weitgehend unbestimmt beziehungsweise unbestimmbar sind im Übrigen auch Zeit und Raum des Settings; Innen- und Aussenwelt, Gegenwart und Vergangenheit, Tag und Nacht, Hitze und Frost, Schmerz und Lust durchdringen sich wechselseitig. Die Schwelle, der Spiegel, das Fenster – von Blanchot immer wieder ins Bild gerückt – stehen symbolisch für diese Übergänglichkeit und veranschaulichen den ambivalenten Status des Hier-und-Jetzt, den der Erzähler («um das Ewige auszulöschen») einzig als «das Ende, jetzt» zu begreifen vermag.

V

Der «gewollte Augenblick», in dem die Zeit aufgehoben und alles eins ist, kann nicht erfahren, schon gar nicht beschrieben werden. Eine Vorstellung davon lässt sich einzig durch das Paradox, Blanchots bevorzugte Denkfigur, gewinnen. Durch eine Vielzahl absurder Formulierungen, die nicht nur Logik und Kausalität, sondern auch sich selbst ausser Kraft setzen, scheint Blanchot die Unmöglichkeit begrifflicher Kommunikation und rationaler Erkenntnis belegen zu wollen. Die Rede ist von «Schritten der Bewegungslosigkeit», von der Schwierigkeit, «auf eine Unmöglichkeit zurückzukommen, wenn sie schon vorbei ist» oder von der «Kraft, die in ihrer Schwäche erwürgt wird». Nicht selten allerdings treibt Blanchot die Paradoxie so weit, dass sie jeden Verfremdungseffekt verliert und der Beliebigkeit oder gar dem Kitsch anheim fällt – allzu viele Stilblüten dieser Art («sie hatte sich mit mir an den Busen eines Elementes gegossen») säumen den Lektürepfad durch eine labyrinthische Prosa, zu der es keinen verlässlichen Leitfaden, dafür zahlreiche Fallstricke gibt, die den Durchgang äusserst beschwerlich gestalten, den Ausgang zur uneinholbaren strahlenden Illusion werden lassen.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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