Los!

Endlich ist es soweit; die ungeplante Weltreise kann stattfinden, es soll nach Osten gehn, nach Kasachstan und noch weiter; ich bereite mich sorgfältig vor, rede mit Freunden, besorge Papiere; die Abreise wird aus kaum durchschaubaren Gründen immer wieder aufgeschoben; viele, zu viele Leute mischen sich ein, wollen oder müssen mitreden; offenbar wird diese junge blasse Frau mich begleiten oder gar mich führen, denn – seht – sie geht stets vor mir her, ihre sehnigen Kniekehlen duften nach Aloeseife, ihre Beine, so scheint mir, sind anständig bis zum Gehtnichtmehr, die Waden, stärker nach aussen gewölbt, rufen nach Sicheln; wir verirren uns im Flughafen, müssen einen andern Flug abwarten, die Papiere umschreiben lassen usf.; mit uns reist ein graues Paar, er – gross gewachsen, älterer Herr, sie – seine Schwester oder Freundin, eine alerte, laut in kanadischem Englisch daherquasselnde Frau; wir haben manche Hindernisse zu überwinden, müssen in einer Art Jugendherberge oder Gefängnistrakt übernachten, dabei ständig darauf achten, dass wir nicht auch den nächsten Flug verpassen; es wird viel geredet, ich stelle fest, wie schwach mein aktives Englisch ist, wir befinden uns wohl irgendwo in Wales oder Schottland; vor uns erhebt sich eine riesige bewaldete Steilwand, wir durchsteigen sie mit Stadtschuhwerk, voraus geht nun immer die unbekannte redselige Dame mit dem grauen wortkargen Gefährten; wir überwinden die Steigung, kommen auf der andern Seite herunter auf eine Terrasse, die übersät ist mit grossen, halb verfaulten Blättern und ebenso grossen Fluginsekten, die (wie) tot dazwischenliegen und von den Blättern kaum zu unterscheiden sind; meine Führerin, die jetzt meine Partnerin ist, springt auf den Terrassenvorsprung hinunter, unter ihren Pantoffeln knacken und krachen die Rieseninsekten; unversehens erstreckt sich vor uns eine weite kohlebraune Ebene mit streng geometrisch angelegten Fabrik- und Privatbauten, die halbwegs mit Asche zugeweht sind; wir rücken langsam vor, wobei die geometrische Ordnung sich allmählich auflöst und ein Grossstadtdschungel sich auftut; wir versuchen, die Wohnung meiner namenlosen Vertrauten ausfindig zu machen; aber du bist ja hier genau so eingerichtet wie dort!, denke oder schreie ich, als wir die schlicht und schön möblierten Räume betreten, bei denen es sich allerdings, wie ich erst jetzt feststellen kann, um einen grossen hohen Wirtshaussaal mit blank gescheuerten Bodenplanken handelt; um nun doch noch den Flughafen zu erreichen, sind wir auf ein Fahrzeug angewiesen; die unbekannte Vertraute ruft eine Freundin an, die sich bereit erklärt, uns abzuholen und hinzufahren; zu dritt auf ihrem klappernden Motorrad mit Seitenwagen queren wir im Schritttempo ruinöse Ortschaften, brandgerodete Landstriche, sehn manchmal von einer Anhöhe ins weite verschattete Reich; kurz vor der Ankunft, bis zum Flughafen sind es nur noch 111 Meilen, kommt es zur Kollision, wir rammen einen schmächtigen scharlachroten Eber, der, zwischen Motorrad und Seitenwagen verkeilt, ganz leis zum Himmel schnaubt, während in der Ferne unser Flugzeug mit einem flauschigen Kondensstreifen den Schwartenriss bandagiert.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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