Nachzeit

Von sich selbst hat Brodsky einst gesagt, er sei wohl ein «schlechter Russe» und ein «schlechter Jude» dazu, dürfe sich aber zumindest für einen «guten Dichter» halten. Dass er, darüber hinaus, auch «so etwas wie ein Christ» war, ist belegt durch eine lange Reihe von Gedichten, die er zwischen 1962 und 1995 mit einer gewissen Regelmässigkeit jeweils eigens zu Weihnachten geschrieben hat, um seiner «Geburtstagsfreude» Ausdruck zu geben – der Freude nicht nur über Gottes Menschwerdung in der schlichten Gestalt Jesu, der Freude auch über den Beginn eines neuen Zeitalters, ja der historischen Zeit überhaupt, die den Kult zur Kunst, den Menschen zum Individuum gemacht habe.
Achtzehn Weihnachtsgedichte sind im Lauf der Jahre entstanden, siebzehn davon liegen in russisch-deutscher Parallelausgabe vor. Der schmale Band ist freilich weit mehr als bloss eine Sammlung von thematisch verwandten Gedichten. Die hier vereinten Texte weisen, ungeachtet ihrer geringen Anzahl, eine solche formale Vielfalt auf und umfassen einen so grossen Zeitraum, dass sie insgesamt als eine repräsentative Werkauswahl gelten können, die Brodskys Schaffen in höchster Verdichtung und dennoch in voller Breite vor Augen führt. Auf einem halben Hundert Seiten finden sich hier Romanzen und Wiegenlieder, politisch und autobiographisch grundierte Gedichte, philosophische und mythologische Lyrik in unterschiedlichsten Vers- und Strophenformen.
Weihnachten ist für Brodskys Schreiben zumeist nur Anlass, nicht Thema – Gelegenheit, über Gott und die Welt, Geschichte und Freiheit, das Leben und die Liebe, kurz: über «nichts und wieder nichts» (oder nach russischer Redensart: über «vergossene Milch») poetisch zu räsonieren. Dies kann im Volksliedton, in kruder, wiewohl gereimter Alltagssprache oder auch in erhabenen, didaktisch daherkommenden Versen geschehen. Bisweilen verschmelzen die unterschiedlichen Intonationen zu einem besonderen Sound, der einzig bei Brodsky so zu vernehmen ist: «Marx hatte recht: Für die grossen Horden / lässt sich das Dasein nicht besser ordnen! / Nur wäre ich längst beseitigt worden, / ging es nach ihm … Wer verdient am Saldo? – / Hab keinen Schimmer von all dem Plunder. / Dass ich noch lebe, ist ein Wunder, / Ver
zeihn Sie mir, doch ich bin so munter / und verlass die Epoche mit einem Salto!»
Wo Brodsky das Weihnachtsfest tatsächlich in den Blick rückt, korrespondiert es mit der Urszene von Bethlehem, empfängt sein Licht vom grossen Stern («der das Auge des Vaters war») und vereint die üblichen Requisiten und Personen, die man aus dem Evangelium, aber auch aus der christlichen Ikonographie kennt – Stall und Krippe, Mutter und Kind, die drei Könige: «Dem neugeborenen Kind kam alles gewaltig vor: / die Brust der Mutter, die Nüstern des Ochsen, Kaspar, Melchior, / Balthasar und deren Geschenke, die man hereintrug. Den Kern / bildete aber das Kind selber. Und das war der Stern.» – In seinen spätesten Weihnachtsgedichten verlegt Brodsky die Geburt Jesu aus der Engnis des Stalls in die Weite der Wüste und gibt damit dem Heilsgeschehen, ebenso eindrücklich wie erschreckend, eine neue, zutiefst resignative Dimension – Leere, grenzenlos und menschenfern: «Warst geboren in der Wüste, / liebes Kind, / wo die Könige und Fürsten / machtlos sind … / Diese Öde, diese Weiten / sind kein Ort / für die Menschen. Nur die Zeiten / wandern dort.»

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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