Prozess

Bin bei Pynchon zu Besuch in einer grossen Stadtwohnung mit Fenstern zum Hinterhof, halb Büroraum, halb Atelier; grosser Tisch, Pflanzen, Geräte, viele undefinierbare Gegenstände aus Aluminium, aus Holz usf.; Pynchon hinterm Tisch mir gegenüber, er sitzt mit dem Rücken zum Fenster, ist freundlich, fragend; ich hole aus zu einem Referat darüber, dass er «immer unterwegs ist und doch ständig am Ort tritt», er nickt, entgegnet aber: ich trete nicht am Ort, ich trete an der Stelle; ich – offenbar Gast hier – gehe hinüber ins Nebenzimmer; ein grosser Schrank steht mit teils offnen, teils angelehnten Türen mitten im Raum, darin liegt stossweise Leibwäsche gestapelt, Socken, Unterhosen, Leibchen, Slips, Büstenhalter unterschiedlicher Grössen; ich suche, finde aber nichts zum Anziehn, stehe nackt im Schrankspiegel; es klingelt, ich höre, wie Pynchon zur Wohnungstür geht, sie öffnet, jemanden begrüsst, dessen Stimme ich nicht erkenne; ein Mann, der mit leichtem deutschem Akzent fliessend Englisch spricht, ich höre, wie er nach mir fragt; Pynchon ruft mich, ich kann nicht raus, weil ich keine Kleider finde, suche weiter im Schrank, entdecke schliesslich eine Plastiktüte, die ich nun als Unterhose benutze, suche weiter nach einem Hemd, einem T-Shirt, nichts da, was passt; ich drehe mich um, im Zimmer steht der Besucher, der sich seinerseits hier umsieht, ein mittelgrosser, mittelschwerer Mann im beigen Regenmantel; in der Tür lehnt Pynchon, lächelt, wir gehn hinüber zu seinem Schreibtisch; der Unbekannte reicht mir eine dicke Broschüre, in der lauter inneramerikanische Flugrouten verzeichnet sind; es geht offenbar darum, einen Flug zu gewinnen und damit auch einen Job in einer der Zielstädte; auf einem Stuhl sehe ich ein zweites Exemplar der Broschüre liegen, ich bin erleichtert, zeige es dem Besucher, um ihm deutlich zu machen, dass ich das Angebot schon kenne und auf seine Vermittlung verzichten kann; bin nun in einem andern Raum, von dem aus es in immer wieder andre Räume weitergeht, Treppenhäuser, Korridore, alles sehr verschmockt, düster, unordentlich, da und dort ein Getränkeautomat; draussen viele Stimmen, es ist, wie sich herausstellt, eine Badeanstalt, dicht an dicht die Badegäste, mir genügt ein Blick auf diese Völkerschaften, dann geh ich zurück ins Haus, bin in einem Seminarraum, Jakobson und eine seiner Assistentinnen examinieren mich, üben harsche Kritik an meinen Arbeiten, zwischendurch – Verhandlungspause – mache ich ein paar Schritte draussen, überlege, wie ich mich dem Tribunal entziehen könnte; ich fühle mich tatsächlich schuldig, empfinde aber gegenüber Jakobson eine aggressive Bitterkeit; alles in der Runde ist grau, es regnet in die Häuserschluchten. Aus.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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