Schreibszene

Das offne Buch passt, jedenfalls mit mir zusammen, schlecht in die Natur. Ich brauche zum Lesen einen Innenraum, am liebsten abgedunkelt, das Buch gehört unter die Lampe, muss vom Kunstlicht ausgeschnitten sein aus der Alltagswelt.
Anders geht’s mir beim Schreiben.
Den Block, den Bleistift habe ich immer auch unterwegs bei mir, notieren kann ich überall, unterm Apfelbaum, in der Strassenbahn, auf der Parkbank, im Weinhaus, auch auf dem Flughafen in der Warteschlange. Was damit zu tun hat, dass ich beim Schreiben – ich meine beim Schreiben von Gedichten – immer von Geräuschen, Klängen, Stimmen ausgehe, eher als von Ideen oder Gefühlen.
Immer ist es eine Hörerfahrung, die mir den ersten Schreibimpuls vermittelt. Mit Block und Stift sammle ich Sprachklänge, halte Intonationen fest, aber auch Gleichklänge, Gegenklänge und dadurch hervorgerufene Wörter oder Wortverbindungen.
Der öffentliche Raum ist der Resonanzraum, aus dem ich die ersten noch unverbundnen Daten für mein Schreiben gewinne. Die Verbindung und Entfaltung von alltäglichen Klangereignissen zu einem Text, in dem Wörter und Laute enggeführt und immer wieder neu zum Sprechen gebracht werden, ist das, was ich unter Dichtung verstehe und als Dichtung praktiziere.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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