Selbstorganisierend

Zunächst einmal – seien wir, Schreibende, doch ein bisschen bescheidener – ist das Material an sich autonom; es gehört sich. Die Wörter, die man im Kopf oder im Duden hat, dazu Gelesnes und Gehörtes, die alltäglichen Varia, Triviales wie Tragisches, alles, was schon irgendeine – noch so hinfällige – Sprachform hat. Ich bin nicht der Herr und schon gar nicht der Meister dieses Materials, ich sammle und sichte es bloss, ordne es innerhalb eines Rahmens, den ich eigens vorgebe als Textgattung, Textart, Textsorte usf. Sonst geh ich aber davon aus, dass nur die Texte selbst, ob Geschichten oder Gedichte, sich organisieren können, und dies am Leitfaden einer schwer bestimmbaren, letztlich in der Sprache liegenden Notwendigkeit, die zugleich immanent und ganz und gar äusserlich ist, vergleichbar am ehesten mit einem Werk der Architektur, das noch so phantastisch sein kann und dennoch den Gesetzen der Statik entsprechen muss
Dass meine Nachdenklichkeit eben auch bloss nachträgliches Denken ist, kann mich nicht irritieren, es tröstet mich eher, bestärkt mich sogar. Da hängt einer seinen Gedanken nach, lässt sich, statt ein Denker sein zu wollen, bereitwillig denken am Leitfaden von spontanen Einfällen, Assoziationen, Reminiszenzen, 
durchaus unsystematisch mithin und inkonsequent; um irgendwann, viel später, beim Lesen oder im Gespräch festzustellen, dass auch dies, dieses Beiläufige, Eigensinnige längst gedacht worden ist und seine philosophische Ausformung gefunden hat.
So geht der Quell den Flüssen nach, die ihm entspringen.
Mit einer gewissen Genugtuung nehme ich deshalb, bei der Lektüre von Alfred Nozsicskas Abhandlung über Zeit und Bedeutung, zur Kenntnis, dass meine Überlegungen zum Verhältnis und zur Funktion von Bedeutung und Sinn bei Donald Davidson ganz ähnlich wie in meinen diesbezüglichen Notaten bereits ausgeführt sind, mit dem Unterschied nur, dass Davidson im entsprechenden Reflexionszusammenhang nicht von Dichtung, sondern von Sprache und Denken allgemein spricht. Bedeutung, so lautet bei mir die These, wird gegeben, Sinn dagegen wird (entsprechend der englischen Ausdrucksweise) gemacht. Dass Sinnbildung, so begriffen, vorab durch poetische Texte angeregt, ermöglicht wird, liegt ebenso auf der Hand wie die Tatsache (oder die Erfahrung), dass Bedeutung vorzugsweise in solchen Texten angelegt ist, die berichten, erzählen, überzeugen, informieren sollen.
Bedeutung ist für Davidson stets etwas Vorläufiges (ich sage präziser: etwas Vorgefasstes), etwas, das auf seine Erfüllung (ich sage: auf sein Verstandenwerden) wartet: Um eine Bedeutung (ein Bedeutetes) zu verstehen, muss ich gewisse Zeichen – beispielsweise Wörter mit ihren konventionellen Bedeutungen – bereits verstanden haben und auch verstehen wollen; im Bedeuten muss immer schon etwas gegeben sein, das ich selber nicht bedeuten kann.
Fazit: ein ursprüngliches grundlegendes erstmaliges Bedeuten kann es nicht geben, es müsste so jemandem – oder so etwas – wie Gott vorbehalten sein. Ob und wie Davidson von da aus weiterdenkt, habe ich nicht nachgelesen; aber genau an dieser Stelle könnte nun mein Sinnbegriff ansetzen – Sinnbildung, wie ich sie verstehen möchte, ist eine quasigöttliche und dennoch von jedermann praktizierbare Geste: es sei!
Ich habe diese Geste als eine via Rezeption produktive Geste zu bestimmen versucht und sie dementsprechend primär (wo es um dichterische Texte geht) dem Leser zugedacht. Mit Blick zurück auf den Anfang dieser Notiz wird die Sache reichlich vertrackt. Denn wenn man (um bei der Poesie zu bleiben) das Gedicht als einen aus Texten generierten Text begreift, wäre die Niederschrift des Gedichts nichts andres als ein besonders intensiver Lese- und Übertragungsakt, könnte also durchaus dazu angetan sein, Sinn zu machen, nämlich dennoch ein nie Dagewesenes hervorzubringen – eben dieses Gedicht: […].

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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