Sozusagen

I

Der rumänisch-französische Dichter Ghérasim Luca – geboren 1913 in Bukarest als Salman Locker, seit 1952 als «papierloser» Einwanderer in Paris ansässig und dort durch Freitod gestorben 1994 – stand den späten Surrealisten um Victor Brauner und Wifredo Lam nahe, war mit Paul Celan und dessen Frau, der Graphikerin Gisèle Lestrange befreundet, wurde aber erst in seinen letzten Lebensjahren, als der Verleger José Corti mit dem Nach- und Neudruck seiner Wortarbeiten begann, einem breitern Publikum bekannt.
Mit der handwerklich konnotierten Berufsbezeichnung «Wortarbeiter» ist dieser Dichter (der im Übrigen auch als Bildkünstler produktiv war) zutreffend charakterisiert; denn dem einzelnen, dem kontextfrei gesetzten Wort und dessen vielfältigen – semantischen wie klanglichen – Schattierungen gilt sein vorrangiges Interesse. Als Sprachverrückter ist er zugleich ein Sprachverrücker, auch ein Sprachverächter, der jeder sprachlichen «Kommunikation» und vollends jeder sprachlich durchgesetzten «Begrifflichkeit», «Gültigkeit» oder gar «Wahrheit» zutiefst misstraut. So meidet er denn konsequent sowohl diskursives wie metaphorisches Reden, da ihm der konventionelle sprachliche Bedeutungstransport mit seinen Missverständnissen und Irreführungen suspekt ist. Statt syntaktisch reguläre Sätze zu Aussagen zu verknüpfen, packt er ein Wort aufs andre, ein Wort ins andre, um deren Bedeutungsebene ins Wanken zu bringen; um aber gleichzeitig immer wieder neuen Sinn und immer wieder neuen – möglichst unsäglichen – Unsinn zu stiften.
Ghérasim Lucas sprachlicher Impulsgeber und zugleich sein Arbeitsmaterial ist das Wort als solches, das Wort, wie’s im Wörterbuch steht, das Wort in seiner puren, zumeist ambivalenten Laut- oder Schriftgestalt, und eben diese sinnlich fassbaren Sprachqualitäten nimmt er zum Anlass vielfältiger Ableitungen, 
Variationen und Permutationen, die ihrerseits – gleichsam autopoetisch – einen unvorhersehbaren, ja unerhörten Eigen-Sinn gewinnen können. So liesse sich etwa aus «ô je dis jour» (o ich sag Tag) das Wort «aujourd’hui» (heute) herauslesen oder aus «héroslimite» (Grenz-Held) die Fügung «éros hors limite» (Eros entgrenzt). Auffallend ist, dass ein «fou du langage» wie Luca trotz seiner Mehrsprachigkeit – er beherrschte Jiddisch und Deutsch, Rumänisch und Französisch gleichermassen – auf zwischensprachliche Assoziationen und Assonanzen (wie etwa Joyce oder Mandelstam sie gepflegt haben) völlig verzichtet zu Gunsten innersprachlicher, vorab klanglicher Wechselbeziehungen.

II

In mancher Hinsicht erinnert Ghérasim Lucas sprachkünstlerische Arbeit an die formalistische Poetik des Pariser Werkkreises für potentielle Literatur (OuLiPo), sein spielerischer Umgang mit dem Wort geht freilich, im Unterschied zu den oulipotischen Schreibverfahren, über die ingeniöse Freisetzung zufallsbestimmter Prozesse und über die blosse Lust am Text weit hinaus. Auch das noch so abgehobene, scheinbar «autopoetische» Sprachspiel beruht auf der Vorgabe bestimmter lexikalischer Rohmaterialien (Begriffe, Orts- und Eigennamen usf.), die der Autor zu setzen hat, um deren systematische Abwandlung (etwa durch Permutation des vorliegenden Buchstabenbestands) oder deren Entfaltung (in assonantischen oder angrammatischen Reihen) zu bewerkstelligen. Als bevorzugte Verfahrensweisen sind bei Luca ausser dem Einsatz von Gleichklängen (Assonanzen, Homophonien) die Bildung von «Koffer-Wörtern» zu nennen, in denen mehrere Begriffe gleichsam komprimiert sind (beispielsweise in «pouvoir», Macht, die Elemente «pou», Laus, und «voir», sehen), sowie die lautliche oder anagrammatische Entfaltung vorgegebner Themawörter (z.B. «…pour l’aimée à aimer l’amour…»).
Zu Ghérasim Lucas bekanntesten Wortfindungen gehört ein Text des Titels «Passionnément»  (Leidenschaftlich),  dessen Druckfassung in den Band Le Chant de la Carpe von 1973 eingegangen ist. Ausgehend von dem einen Wort «passion» (Leidenschaft) entfaltet der Autor am Leitfaden des Sprachklangs ein Dichtwerk, das von «pas» (homonym für nein; nicht; Schritt) und «papa» beziehungsweise «pape» via «bas»/«basse» (niedrig), «passer» (vorbeigehen) oder «pisser» (pissen) zu «ration» und «nation» viele sich anbietende Assoziationen in sich aufnimmt.
Dass Ghérasim Lucas Spiel mit der Sprache ein durchweg ernstes, wenn nicht todernstes Spiel ist, zeigt sich – hier in dezidiertem Gegensatz zur poetischen Spasskultur der Oulipoten – besonders deutlich bei der Auswahl seiner Themawörter, die fast ausschliesslich dem weiten semantischen Einzugsbereich zwischen Liebe und Tod, Macht und Gewalt, Schmerz und Angst entstammen: «Für den Todesritus der Wörter / schrieb ich meine Schreie auf / mein mehr als irres: mein falsches Gelächter / und meine ethische Phonetik / werf ich wie ein Fatum / über die Sprache.» Es braucht schon den richtigen «Biss» (morsure), um den «sicheren Tod» (mort sûre) der konventionellen Wortbedeutungen herbeizuführen: «So gehen wir zugrunde und lieben alles, was uns flieht, alles, was in uns schallt, und alles, woran es uns fehlt…»

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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