Standbein und Schreibarm

I

Unter den sogenannten freien Autoren bin ich heute, meinem Jahrgang zum Trotz, sicherlich einer der jüngsten; denn erst mit dem vorzeitigen Abgang von der Universität erhielt ich, nach langem Dienst als Angestellter, die Gelegenheit (die auch eine Notwendigkeit war), den Schreibarm ohne die gewohnte materielle Absicherung durch das Standbein meines Berufs zu aktivieren. Noch habe ich mich mit der neuen Situation nicht ganz vertraut gemacht und überlege hin und wieder, was sich denn nun – tatsächlich – durch meinen Austritt aus dem Berufsleben für mich als Autor geändert hat und was diese Änderung für mein Schreiben, besonders mein literarisches Schreiben an Gewinn, an Verlust bedeutet.

II

Befreiung als Gewinn und als Verlust; Befreiung vom universitären Stundenplan, von thematischen Vorgaben der Fachausbildung, von Präsenzzeiten im Unterricht, in Senats- oder Kommissionssitzungen, Befreiung auch von Prüfungskorrekturen und Begutachtungspflichten, Befreiung schliesslich – und nicht zuletzt – von der Pflicht wissenschaftlicher Forschung und der regelmässigen Publikation einschlägiger Forschungsergebnisse. Alles, wovon ich inzwischen befreit bin, ist auch ein Verlust; alles, wozu und wofür ich mich frei machen kann, wird zum Gewinn. Doch wie wirkt sich dieser Freiheitsgewinn nun aus, welche Folgen, Möglichkeiten, Herausforderungen bringt er mit sich, wie und in welchem Ausmass bestimmt er meine tägliche Schreibarbeit, meine literarischen Projekte, meinen Umgang mit Verlegern und Redaktoren, die Wahl meiner Themen und Textsorten, nicht zuletzt meinen Literaturbegriff, meinen Personalstil?

III

Schon die kurze bisherige Erfahrung als freier Autor lässt mich erkennen, dass die Befreiung von Amt und Beruf nicht allein neue Freiheiten, sondern auch eine ganze Reihe neuer Zwänge mit sich gebracht hat, eine Erfahrung, die insofern ein paradoxes Fazit nach sich zieht, als für mich bereits feststeht, dass ich als unfreier, als beruflich bestallter und belasteter Autor um vieles freier war denn in meiner neuen Situation als angeblich freier, in Wirklichkeit aber vielfach gebundner Autor, dessen Schreibarm heute, da er nicht mehr wie zuvor durch das berufliche Standbein geerdet ist, auch nicht mehr eigenmächtig und eigengesetzlich agieren kann, sondern ganz verschiedne, durchweg ausserliterarische, ausserkünstlerische, ja sogar kunstfeindliche, zum Beispiel ökonomische, honorarbedingte oder marketingbestimmte Erfordernisse berücksichtigen muss. Solche Erfordernisse spielten keine Rolle, solang mein Auskommen durch den Beruf gesichert war, ich also keine Rücksicht darauf nehmen musste, ob und wie viel an Honorar eine Buch- oder Zeitschriftenpublikation, eine Lesung oder eine Tagungsteilnahme erbringen würde. Und noch wichtiger – ich musste keinerlei künstlerische Konzessionen machen, ich bot an, was ich geschrieben hatte, freute mich, wenn es angenommen wurde, konnte mich darum foutieren, wenn es nicht angenommen wurde, auf Vorschüsse war ich ebenso wenig angewiesen wie auf irgendwelche Tantiemen, und es machte für mich auch keinen Unterschied, ob ein finanzschwacher Kleinverlag oder ein potenter Publikumsverlag meine Texte übernahm – verkauft wurde immer etwa gleich viel, ob mit oder ohne Verlagswerbung; denn für die Art von Literatur, die es von mir zu lesen gibt, zumeist Gedichte oder kompakte Prosa, ist die Leserschaft auf bemerkenswert niedrigem Niveau stabil – es sind nur gerade ein paar hundert Interessierte, die meine Bücher brauchen und sie auch dann, wenn dafür keine Werbung gemacht wird, früher oder später entdecken.

IV

Übrigens – je später desto besser, und wenn nicht in der Grossbuchhandlung, dann halt im Antiquariat. Denn ich schreibe nicht für die Saison und stelle mich lieber dem Anspruch des morgigen als des heutigen Lesers. Noch ungewiss ist allerdings, ob ich diese Position auch als freier Autor halten kann. Feststeht allerdings, dass literarisches Schreiben allein kaum je etwas beitragen wird zu meinem Lebensunterhalt, und wenn ich es nicht korrumpieren will dadurch, dass ich ausserliterarischen Anforderungen oder betrieblichen Erwartungen nachkomme, muss ich meinen Schreibarm zusätzlich für publizistische und übersetzerische Arbeiten mobilisieren. Die neu gewonnene Freiheit muss abgegolten werden durch eine unvermeidlich daraus folgende Unfreiheit, die es zuvor nicht gab.

V

Manche Schriftsteller haben diese Erfahrung ebenfalls gemacht, teils willentlich, teils unwillentlich, und immer hat sie sich als problematisch erwiesen. Problematisch übrigens auch dann, wenn sie gemieden oder verdrängt wurde. Ein Beispiel dafür ist Franz Kafka, der sich Zeit seines Schriftstellerlebens im weiten Feld zwischen Berufung und Beruf bewegt hat, ohne sich für das eine oder andre, für diese oder jene Freiheit, für diesen oder jenen Verlust entscheiden zu können. Am Leitfaden seiner Briefe und sonstiger Schriften, in denen er das Dilemma thematisiert, möchte ich der Problematik von Beruf und Berufung kurz nachgehn, um mir dabei womöglich auch über meine eigne diesbezügliche Situation mehr Klarheit zu verschaffen.

VI

Den Grossteil seines Lebens, nämlich die Jahre 1906 bis 1922, absolvierte Kafka nach seiner Promotion zum Dr. iur. als Büroangestellter. Zunächst war er Aushilfskraft bei den Generali Versicherungen in Prag, danach – ab 1908 – folgte, ebenfalls in Prag, eine lange, kontinuierliche, wenn auch immer wieder durch schwere Krisen gefährdete Beamtenkarriere bei der Arbeiter- Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen, eine unspektakuläre, aber durchaus respektable Karriere, die ihn allmählich vom Aushilfsbeamten und Anstaltskonzipisten zum Anstaltssekretär und schliesslich, kurz vor seiner vorzeitigen Pensionierung, zum Obersekretär avancieren liess.

VII

Kafka scheint ein verlässlicher, obzwar kein besonders eifriger Beamter gewesen zu sein. Nach kakanischer Gepflogenheit versah er seinen Dienst «mit einfacher Frequenz», das heisst – er hatte, wenn er nicht auf Inspektionsreise war, Präsenzpflicht täglich von 8 bis 14 Uhr, so dass ihm für das Schreiben, für die Literatur verhältnismässig viel Zeit blieb. Dennoch war ihm die Büroarbeit eine Last, jedenfalls eine unliebsame Pflicht, die seinen Schreibarm lähmte, die er aber doch auch dankbar auf sich nahm, weil sie ihm das Standbein verschaffte, auf das er als wenig erfolgreicher Autor finanziell angewiesen war. Im Frühjahr 1911, mithin in seinem fünften Arbeitsjahr als Kanzlist, hielt er in seinem Tagebuch fest: «Abgesehen von meinen Familienverhältnissen könnte ich von der Literatur schon infolge des langsamen Entstehens meiner Arbeiten und ihres besonderen Charakters nicht leben; überdies hindert mich auch meine Gesundheit und mein Charakter daran, mich einem im günstigsten Falle ungewissen Leben hinzugeben. Ich bin daher Beamter […] geworden. Nun können diese zwei Berufe [Kanzlist und Schriftsteller] einander niemals ertragen und ein gemeinsames Glück zulassen. Das kleinste Glück in einem wird ein grosses Unglück im zweiten.»

VIII

Zweifellos hätte Kafka die Existenzform eines freien Schriftstellers der eines beamteten Kanzlisten vorgezogen, stets hat er darauf gehofft (sein Tagebuch belegt’s), «in die grössere, auf [ihn] vielleicht wartende Freiheit zu kommen» und sich gänzlich der Literatur widmen zu können. Dass er bereits 1915 ernsthaft daran gedacht hat, seine Stelle zu Gunsten freier Autorschaft aufzugeben, lässt darauf schliessen, wie schwer er an seinem Beruf getragen hat, wie sehr er sich, auch bei «einfacher Frequenz», eingeschränkt fühlte durch seinen täglichen Bürodienst, den er als «Frondienst in der Kanzlei» empfand. Immer wieder beklagt er – im Tagebuch wie in seinen Briefen – das «Hinundher [zwischen Büro und privatem Schreibtisch]», das so «nutzlos» sei und «immer ärger» wird, das nur «halbe Zufriedenheit» aufkommen lässt und das ihn letztlich aufzureiben droht. «Manchmal glaube ich fast zu hören», schreibt er im Dezember 1912 an Felice Bauer, «wie ich von dem Schreiben auf der einen Seite und von dem Bureau auf der andern geradezu zerrieben werde. Dann kommen ja wieder auch Zeiten, wo ich beides verhältnismässig ausbalanciere, besonders wenn ich zuhause schlecht geschrieben habe, aber diese Fähigkeit (nicht die des schlechten Schreibens) geht mir – fürchte ich – allmählich verloren.»

IX

Was Kafka vorschwebte, war die Freistellung des Schreibarms vom Standbein oder, anders gesagt, der literarischen Kür von der bürolistischen Pflicht, und das heisst (mit seinen Worten) die Tren­nung von Beruf und Berufung. Mit bewunderndem Seitenblick auf den heute völlig vergessnen Dichter Paul Adler präzisierte Kafka einst gegenüber dem jungen Gustav Janouch: «Er hat keinen Beruf, sondern nur seine Berufung. […] Ein freier Mensch und Dichter. Ich bekomme in seiner Nähe immer Gewissensbisse, dass ich mein Leben in einer Kanzleiexistenz ertrinken lasse.» Die «Gewissensbisse», die Kafka hier eingesteht, sind ihm zunehmend zu einer niemals abzugeltenden Schuld geworden – der Schuld eben, nicht gänzlich und ohne Vorbehalt der literarischen «Berufung» gefolgt zu sein, sie «verdeckt» und zugleich verraten zu haben durch den Rückzug in einen ungeliebten «Beruf», der zwar Sicherheit versprach und Normalität garantierte, der aber allzu viel Zeit und Kraft beanspruchte, die eigentlich dem Schreiben vorbehalten sein sollten. «Schreiben und Bureau schliessen einander aus», stellt Kafka gegenüber Felice fest: «Denn Schreiben hat das Schwergewicht in der Tiefe, während das Bureau oben im Leben ist. So geht es auf und ab und man muss davon zerrissen werden.»

X

Zwischen Berufung und Beruf tat sich für Franz Kafka ein qualvolles Dilemma auf, das er nie zu überwinden vermochte, nämlich – so notiert er’s im Tagebuch – «das Gefühl [zu] haben, gebunden zu sein, und gleichzeitig das andere, dass, wenn man losgebunden würde, es noch ärger wäre.» – Man beachte das Paradoxon: Kafka folgt gleichzeitig den Forderungen seines Berufs und seiner Berufung, doch eben dadurch hindert er sich selbst daran, beiden Anforderungen gleichermassen zu entsprechen – als Kanzlist wie als Schriftsteller ist er, nach eignem Bekunden, ein Versager, und seine beiden Beschäftigungen (die unfreie Büroarbeit wie die freie Autorschaft) bleiben auf fatale Weise defizitär.

XI

In Kafkas literarischen Texten gewinnt dieses existentielle Paradoxon die unterschiedlichsten Ausprägungen – es ist das Parado­xon des Kentauren, der zugleich Mensch und Tier ist, der aber als Tier wie als Mensch ein Mängelwesen bleibt. Am eindrücklichsten hat Kafka diese kentaurische Existenzform schon 1912 in der Ver­wandlung vorgeführt: Gregor Samsa ist gleichermassen Mensch und Tier, er ist Mensch gewesen und Tier geworden, er hat Tiergestalt und/aber menschliches Ichbewusstsein; er ist, als Mischwesen, ein Doppelmonster, sein Name – «Samsa», von tschechisch «sám» (selbst; allein) – ist wohl ein Kryptonym für Kafka «selbst», dessen eigner Name – von tschechisch «kavka», Dohle – ebenfalls ein Tier bezeichnet.

XII

In Kafkas Erzählwerk gibt es zahlreiche weitere Hybriden dieser Art, die offenkundig selbstbezüglich imaginiert sind; offenkundig insofern, als Kafka seine kentaurische Doppelexistenz, die insgesamt dann eben doch nur eine halbe Existenz hergab, an diversen Stellen – in Briefen wie im Tagebuch – benannt, beschrieben, beklagt hat. An einer dieser Stellen (notiert 1911 während der Niederschrift der Verwandlung) belobigt er sich selbst mit bitterer Ironie für seine Geschicklichkeit beim Händedrücken – «wie wenn es zwei rechte Hände wären und ich eine Doppelperson». Doch auch hier wird deutlich, dass die Doppelung der Hände und sogar der Person keinen Mehrwert, sondern ein Defizit erbringt. «Nur ist es eben», so heisst es andernorts im Tagebuch, «für mich ein schreckliches Doppelleben, aus dem es wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt.» – Es gab allerdings auch Momente, da sich Kafka als Ausweg aus seiner existentiell unhaltbaren Situation zwischen dienstlicher und freiberuflicher Schreibarbeit nur noch den Freitod vorstellen konnte.

XIII

Gegenüber seiner Verlobten Felice Bauer bezeichnete sich Franz Kafka im Herbst 1916 hintersinnig als einen «schweren Fall» – Fall in der Mehrfachbedeutung von Casus, Causa, Fall, aber auch als Sturz, als Absturz. Und darauf folgt, als rhetorische Frage, jener Satz, der vielleicht am präzisesten das prekäre Selbstgefühl des Autors zwischen Beruf und Berufung vergegenwärtigt:

«Bin ich» – so lautet der Satz – «ein Cirkusreiter auf 2 Pferden?»

Der Fall (hier der Sturz) des Reiters ist nicht zu vermeiden, nicht aufzuhalten; Kafka selbst gibt die Antwort: «Leider bin ich kein Reiter, sondern liege am Boden.» Tatsache bleibt, er ist zwei divergierenden Kräften ausgesetzt, die ihn gleichermassen hinreissen; wollte er als Reiter, der mit je einem Bein auf je einem Pferderücken balanciert, beiden dieser Kräfte folgen, sie würden ihn tatsächlich zerreissen; er aber zieht es vor, in ihrem Spannungsfeld liegen zu bleiben und allein aus der Spannung seine Schreibbewegung zu entfalten.

XIV

Ich komme an diesem Punkt noch einmal auf meine eigne Schreiberfahrung zurück, die sich in der Praxis von derjenigen Kafkas kaum unterscheidet. Auch bei mir hatte die «Berufung» zu freier Autorschaft stets Vorrang vor dem bürgerlichen «Beruf»; auch mir fiel es schwer, das eine mit dem andern zu verbinden oder gar: das eine für das andre nutzbar zu machen. Ich kenne sehr genau das Gefühl, wie ein Zirkusreiter auf zwei auseinanderstrebenden Pferden zu balancieren und sie auf Kurs zu halten. Doch würde ich von mir selbst nicht sagen, dass ich immer nur am Boden gelegen und die Pferde über mich hätte hinwegsetzen lassen. Ich habe vielmehr versucht, durch das aufreibende Hin und Her zwischen beruflicher und privater, zwischen wissenschaftlicher und literarischer Sphäre meinen – einen – Schreibarm für zwei völlig verschiedne Schreibbewegungen zu konditionieren, nämlich die diskursive und die poetische.

XV

Erst allmählich ist mir dabei aufgegangen, dass die beiden durchaus gegensätzlichen Schreibweisen auch durchaus gegensätzliche Methoden und Ziele verfolgen, dass sie – wie etwa die Register einer Orgel – ganz unterschiedlich einzusetzen sind und dass sie auch entsprechend unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche Ergebnisse zeitigen. Beide Schreibweisen erwiesen sich für mich als ergiebig, wiewohl ich einzig die poetische wesentlich und unverwechselbar finden konnte. Die wissenschaftliche wiederum – die diskursive also – ist es gewesen, die nicht nur meinen freien Schreibarm in gewisser Hinsicht angeregt und mobil gehalten, sondern auch mein Standbein gefestigt hat. Konkret bedeutet dies, dass ich einerseits (auf beruflicher Seite) eine bestimmte, allgemein praktizierte und allgemein anerkannte Schreibweise pflegte, um anderseits und umgekehrt (auf literarischer Seite) ohne Rücksicht auf Akzeptiertes, Erwartetes, Gefordertes einer nomadischen Schreibbewegung zu folgen, die der diskursiven Rhetorik der mit Recht so genannten Sekundärliteratur in mancher Hinsicht zuwiderläuft.

XVI

«Das richtige Wort führt», soll Kafka gegenüber Janouch gesagt haben: «Das unrichtige verführt.» Ich möchte diese pointierte Aussage nicht auf den Leser, vielmehr auf den Schriftsteller, den Dichter beziehen und also annehmen, dass das richtige Schreiben ein weitgehend eigendynamisch sich auslebender Prozess ist – entsprechend einer Briefnotiz Kafkas an Grete Bloch von 1914, worin er dezidiert festhält: «Es gibt eine Schwerkraft der Sätze, der man sich nicht entziehen kann.» – Der richtige Autor wäre demnach einer, der nicht bloss die Feder oder ein andres Schreibgerät führt, sondern sich führen lässt durch die Schreibbewegung als solche, die ihn übrigens nicht selten zu einem Punkt der Aussage oder Formgebung bringt, den er gar nicht angestrebt hat, der ihm vielleicht auch gar nicht einleuchtet, den er womöglich nicht mal wirklich versteht. Oft schreibt der richtige – der literarische – Autor entgegen seinem Wissen und Wollen: «Ich habe meine Fähigkeit des Schreibens gar nicht in der Hand», heisst es weiter in dem erwähnten Brief: «Sie kommt und geht wie ein Gespenst.» Der freie, der richtige Autor wäre demnach der, welcher sich von einer fremden Kraft – einem Gespenst! der Sprache? – führen lässt.
An andrer Stelle ist bei Kafka die Rede von «dem im geheimen sich vollziehenden Weg, auf dem die Worte aus uns hervorgetrieben werden». Auch hier hat der Weg, mithin die Schreibbewegung Vorrang vor dem Ziel, das heisst vor der Aussage, der Mitteilung, kurz – vor der Information; das Schreiben ist dem Geschriebnen nicht nur chronologisch und kausal vorgeordnet, das Schreiben ist das Werden des zu Schreibenden wie des Geschriebnen, das Schreiben selbst ist das Ziel des Autors.

XVII

Dies alles gilt, wohlverstanden, für das literarische, vorab das dichterische, das «freie» Schreiben; ganz anders verhält es sich mit der Niederschrift von wissenschaftlichen, politischen, dokumentarischen Texten, deren Aussage und Bedeutung vom Autor vorgegeben werden und vom Leser erschlossen werden müssen. Hier handelt es sich – im Unterschied zum intransitiven Schreiben der Dichter – um eine transitive Schreibbewegung, die ihren vorgefassten oder vorgefundnen Gegenstand durch Beschreibung und Erklärung möglichst präzis vergegenwärtigt. Die Sinnbildung bleibt in diesem Fall nicht dem Leser überlassen, dieser hat vielmehr, wenn die Lektüre ihm etwas bringen soll, die Bedeutung zu erfassen, die der Autor vorgängig in seinen Text investiert hat und die er durch diesen Text zu kommunizieren beabsichtigt.

XVIII

Doch zurück zum Beginn nun und zu mir selbst als noch immer lebendigem Beispiel. Ich habe lange Zeit als Sozial- und Kulturhistoriker gearbeitet. Mehrere Bücher und zahlreiche Abhandlungen sind aus dieser Arbeit – Archiv, Forschung, Lehre – hervorgegangen. Der wissenschaftliche oder sekundärliterarische Autor muss seinen Forschungsgegenstand definieren, seine Forschungsmethode offenlegen, sein Forschungsziel benennen. Die Textgenese ist immer die gleiche, sie wiederholt sich von Aufsatz zu Aufsatz, von Buch zu Buch. Denn der Schreibprozess kann naturgemäss dann erst beginnen, wenn die Forschung abgeschlossen und deren Ergebnis bekannt ist. Der daraus entstehende Text wird denn auch stets nach dem Forschungsergebnis abgefragt, auf das hin er verfasst wurde – eine völlig berechtigte, ja notwendige Frage; eine Frage, die sich – so – bei einem dichterischen Text nicht stellen lässt. Dichterische Texte haben, bringen, behaupten kein Ergebnis, sie sind’s.

XIX

Als Wissenschafter, als Publizist schreibe ich, kann ich nur schreiben, wenn und weil ich weiss; als Dichter schreibe ich vielmehr, um zu wissen. Als Dichter gleiche ich jenem von Kafka belobigten Schwimmer, der seinen Rekord dann erst herausschwimmt, wenn – und weil – er das Schwimmen (sein Wissen, sein Können) verlernt hat.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00