Strickwerk

Als «Kalendergedichte» rubriziert Oswald Egger eine Textfolge, die er 2006 bei einem Kleinverlag in bibliophiler Aufmachung vorgelegt hat und die eine bereits längere Reihe eigenartigster, meist selbstgefertigter Buchwerke um einen neuen Titel – Tag und Nacht sind zwei Jahre – ergänzt. Insgesamt fünfzehn Texte von je einer Druckseite Umfang werden zwischen den Seiten 1 bis 31 so eingerückt, dass auf jede Seite je eine Texthälfte zu stehen kommt, vielleicht in Analogie zum kalendarischen «Tag», an dem naturgemäss stets auch die Nacht ihren Anteil hat. Die Ziffer 31 lässt an eine Monatsfrist denken; die Gleichsetzung von «Tag und Nacht» mit «zwei Jahren» bleibt unklar, relativiert aber jedenfalls die üblichen Einheiten und Kriterien der Zeitmessung.
Der durchlaufend verwendete Flattersatz, das Fehlen von Einzügen und Leerzeilen, von Strophik und Metrum weisen die «Kalendergedichte» als poetische Prosa aus: Proserpina progrediert auf Serpentinen. Prosaisch – wie die schlicht-vertrackte Titelzei
le – sind auch vereinzelte Sätze, die da und dort in den Text eingezogen sind, ihm eine narrative Orientierung zu geben scheinen, dann aber gleich wieder abreissen und die Lektüre vom Gesagten auf das Sagen zurückverweisen.
«Ich bin kein Wanderer, und habe gottlob auch nichts anderes zu tun.» Das liest sich wie ein beiläufiges kolloquiales Statement, ist aber, genauer bedacht, eine Aussage von absurder Abgründigkeit, die sich auch so formulieren liesse: Ich habe nichts anderes zu tun, als kein Wanderer zu sein. Die doppelte Negation («nichts»/«kein») erzeugt einen Kippeffekt, der erst mit Verzögerung eintritt, dann aber umso heftiger den Nonsens der scheinbar unbedarften  Aussage akzentuiert;  die Klangähnlichkeit  von «Wanderer» und «anderes» verstärkt, weil sie Gegensätzliches zu versöhnen scheint, den Effekt der Absurdität. – Und so geht’s weiter im Text:

Jetzt zog ich vor und setzte mich zur Stunde auf besonnte, wie Wie­senschmelz helle Stelle, bleibte stehen (im Moment), horchte und spähere nach Augenblicken (Feldfächern). Ich will Laute färben (die ruften). Und dann sah ich schönste Falt-­Larven (Blumen in Ra­chenform, mit dicht zusammenschliess’nen Einschnitten) auf Kun­keln emailliert. Auch ihr Spiel ist mimend (merkwürdig), sie blät­tern dem Tag zu, spalten sich, rollen in Sonnenrädern vor, und schliesslich ist nur noch häutiger Spelz da, ein undurchscheinendes Punktkleid (Blumen?) über eng gepressten Haarnest-Röschen und junge Sprosse tollen dort Domino (Glandern und mit Büscheln). Jetzt stehen sie in Linien, nick’ten mit den Köpfen und beginnen Klaglaut schnäppernd, als Trillierlilien, ihre Liedbalz.

Auch das liest sich leicht, die Ich-Rede baut hermeneutische Schwellenängste ab, dennoch bleibt der Text dunkel, die Lektüre wird gestört, das Verständnis erschwert durch vielfältige Widerstände, Bruchstellen, Fehlfunktionen der Sprachform. Dazu gehören, oftmals kaum voneinander zu unterscheiden, Neologismen und Archaismen, Fachausdrücke diverser Disziplinen sowie selten gebrauchte Gegenstandsbezeichnungen und ungewöhnliche Wortzusammensetzungen, hier etwa «Glandern», «Haarnest-Röschen», «Spelz», «Wiesenschmelz» (oder andernorts: «Pfettengebälk», «Wipptgras», «g’sott-Wolken», «hundert-rote Fasel-Häutchen» usf.).
Mit grösster Willkür werden Verbalformen eingesetzt, transitive Verben funktionieren dann intransitiv, zugehörige Präfixe und Präpositionen werden vertauscht, Zeitebenen jäh verschoben, konventionelle Bedeutungen verfremdet: «horchte und spähere nach Augenblicken», «sie blättern dem Tag zu». Dazu kommen grammatikalische Regelbrüche («ruften» für riefen, «bleibte» für blieb) und minimale Manipulationen auf der Laut- oder Letternebene («häutig» – einerseits als Adjektivbildung zu Haut, anderseits als Homophonie zu heutig, woraus sich eine unerwartete Doppelbedeutung ergibt). Zahlreich sind alogisch oder bewusst fehlerhaft verknüpfte Wortfolgen wie «will Laute färben», «junge Sprosse tollen dort Domino» oder, im selben Text, «versteckte mich zu Dickicht, Jagschatten über Unwegen wühlten umbern».
Bei aller Irritation, die dem Leser zugemutet wird und die ihn an richtigem, vielleicht voreiligem Verstehen hindert, ist der Text unschwer als Naturgedicht zu erkennen. Begriffe aus dem Bedeutungsbereich «Wiese»/«Garten» treten hier gehäuft und in grosser Variationsbreite auf, nur benennen sie eben nicht, sie evozieren, sie schaffen eine wabernde Atmosphäre, die bei mir als Leser Gräser, Blumen, Bäume synästhetisch erwachsen lässt: sie zum Blühen, Duften, Leuchten, Rauschen bringt. Dort – im Text, der die Wiese ist – steht nun, Schwarz auf Weiss, eine Schar von Löwenmäulchen, bildhaft hervorgerufen durch diesen einen (bereits zitierten) Satz:

Und dann sah ich schönste Falt­-Larven (Blumen in Rachenform, mit dicht zusammenschliess’nen Einschnitten) auf Kunkeln email­liert.

Was tut’s, wenn diese oder jene Wortform, diese oder jene Wortverbindung mir unverständlich bleibt – der Satz insgesamt entfaltet beim Gelesenwerden ein Assoziationsfeld, das die Wiese, den Garten nunmehr als meine Wiese, meinen Garten aus lauter Wörtern Wirklichkeit werden lässt; also – aus Möglichkeiten eine Welt, und dies selbst dann, wenn «die Weissnacht blind» scheint:

… doch zwischen Lampe und Gewand wird Luft von allen Seiten gegen wehendere Windkörper segeln. Kornblumen und Halme wür­den, ohne Höhe, über Teich und Bach getragen, und fielen, Schräge regnend, aufs Fährschiff. Kleinere Knuffelkuppen, gerötet (Schmin­ke) in Karmin, sitzen an den Wimpern vorjähriger Ästchen – Knos­pen ohne Ende (und Masquerade), ja.

An manch andrer Stelle verhilft indes auch tüchtiges auflösendes Lesen nicht zur Erhellung der Textbedeutung. Man liest, ich lese, doch Einsicht und Verständnis bleiben aus. Wo der Text nichts freigibt, was an Bedeutung hinter oder unter ihm liegt, geht die Lesereise unwillkürlich in eine Art Scanning der Textoberfläche über, sie tastet horizontal ab, was sich als Bedeutungstiefe der verstehenden – vertikalen – Aneignung entzieht. Einfacher gesagt: das Lektüreinteresse wird dort, wo die Bedeutungsdimension verborgen bleibt oder überhaupt fehlt, vom Signifikat auf den Signifikanten gelenkt, will heissen, vom Wort als Bedeutungsträger auf das Wort als solches, als Schrift- oder als Lautgestalt. – Das Kalendergedicht  22 beginnt so:

Kerbel­garb’schwämme streckten träge, Talg­lack glänzende Limpf­ Finger in den Himmel, die Tüpfel’t glühten Sprengsel-­Triebe vor ungehaucht fast Ast-Schraffur (zu Frost), die schlang’gerten Rispzündhülsen (und Plumpfrüchte beer’en zwischen Baum und Brunnen, zu vier, fünf engen Gumpen und dennoch (gl’itzerte Wo­cken) und Schnörkel rollen ein und vor, Waulfächer spreitzen auf, trauben, so wie Bocksrosse jagten jetzt, gelatzte Wind-­Lanzetten gruben und überkräusel’nd Knäuelblätter.

Auch hier ist ein Begriffsraster zu erkennen, der sich hauptsächlich auf die Pflanzenwelt bezieht («Kerbel», «Triebe», «Rispen», «Hülsen», «Früchte», «Blätter» usf.), sonst aber bleibt der Text undurchschaubar in Bezug auf seine Bedeutung. Nicht Verständigung, vielmehr Unverständlichkeit wird in solchen Passagen durchgesetzt. Die Transparenz dessen, was da geschrieben steht, auf eine ausserliterarische Bedeutung hin, die hinter dem Geschriebnen stünde, ist weitgehend eingetrübt, die Wörter sind syntaktisch und grammatisch kaum noch gebunden, als bedeutungsschwache Lautgebilde scheinen sie frei durch die Zeilen zu schweben und keinerlei Anspruch zu erheben, verstanden zu sein.
Ist denn – beispielsweise – «trauben» ein Tätigkeitswort? Ein Druckfehler für «Trauben»? eine Anspielung auf «Tauben»? Eine Verquickung von «trauen», «tauen» und «rauben»? Ist «spreitzen» gleichbedeutend mit «spreizen»? Sind «gelatzte Wind-Lanzetten» so etwas wie «gewitzte Blind-Wanzen» oder «geplatzte Wind-Latzen»?
Dass der Dichter «alle Bande» auflöse, durch die sein Sprachmaterial funktional festgelegt und seine Rede als Mitteilung bedeutungsvoll werden könnte, hat schon Novalis zum Prinzip erhoben: «Seine Worte sind nicht allgemeine Zeichen – Töne sind es – Zauberworte, die schöne Gruppen um sich her bewegen.» Eben dies geschieht in dem angeführten Textauszug, und es geschieht in Oswald Eggers Dichtung unentwegt, dass nämlich einzelne, gewissermassen tonangebende  «Zauberworte»  lauter «schöne Gruppen um sich her bewegen» beziehungsweise dass aus bestimmten Leitwörtern seitenlange Texte als rein sprachliche Klangereignisse sich entfalten und nur noch spurenweise Bedeutung mit sich führen.
Zurück, noch einmal, zu den ersten paar Zeilen des obigen Auszugs: «Kerbelgarb’schwämme streckten träge, Talg-lack glänzende Limpf-Finger in den Himmel, die Tüpfel’t glühten Sprengsel-Triebe vor ungehaucht fast Ast-Schraffur (zu Frost) …» – Die 
Text- beziehungsweise Klangentfaltung erfolgt hier über die Lautgruppen ERB-ARB / TRECK-TRÄG / ALG-LACK / IMPF-FING-IN-IM / TÜ-L’T-ÜHT / FAST-AST-SCHRAFFROST sowie über die weiter ausgreifende Nebenlinie SCHWÄMME-GLÄNZ-ENDSPRENGSEL und ausserdem durch die rhythmische Fügung des Sprachmaterials. Die Wörter selbst – nach Novalis: «richtig fortpflanzende Worte» – bilden so etwas wie einen Echoraum, sie kommen ab- und anklingend miteinander ins Gespräch, rufen sich wechselseitig auf. Zu verstehen sind hier einzig die lautlichen Wort-Wort-Beziehungen, wohingegen die Bedeutungsebene des Texts, also der Wörter insgesamt und deren Satzzusammenhang unzugänglich bleibt.
In einem poetologischen Korollar, das er seinen Kalendergedichten 2007 nachgereicht hat, spricht Oswald Egger, in offenkundiger Übereinstimmung mit Novalis, von der «grossen Liaison» der Wörter, von ihrem «Verhängnis», einander zu «entsinnen», und zwar «wegzusammenhängend reziprok»: «… im Selbander-Ponderablen von quasi Tau-Perlen-Tauen, die sich-in-sich, in Takelagen ihrer Sinnlichkeit, verstrickten – Tricotage.»
Das dichterische «Verhängnis» ist bei Egger wörtlich zu verstehen als etwas in sich selbst Verhängtes (Verhenktes), als die von der Sprache über sich selbst verhängte Eigengesetzlichkeit, nach der die Wörter gemäss einer «Grundmasche» die unterschiedlichsten Verbindungen (Liaisons) eingehen. Der Gedichttext, so aufgefasst, gleicht einer Takelage, bestehend aus einem komplexen «Verhängnis» von «Tau-Perlen-Tauen» (d.h. von aufgeschnürten Tauperlen) oder auch, in dichterer Fügung, einem eng- und vielmaschigen Strickwerk (Tricotage) mit eignem Verhängnis «ohne Tun und Und».
Heute, da jede Art von Diskurs – der politische, der juristische, der medizinische, auch der literarische – auf leichte Verständlichkeit heruntermoderiert wird, nimmt sich Oswald Eggers dichterische Rede wie ein provokanter Dreh aus, angelegt darauf, solch frag- und problemloser Verständigung, der selbst die Literaten in 
ihrer Mehrheit Genüge tun, sich zu entwinden. Das weckt naturgemäss Irritation, ruft Konsensualisten auf den Plan, zieht den Vorwurf elitärer Abgehobenheit und gewollter Unverständlichkeit nach sich, den Vorwurf also der Publikumsverachtung. Doch Egger schreibt gerade nicht für ein mehrheitliches Publikum, er schreibt für den selten gewordnen privaten Leser, dessen Eigensinn und intellektuelle Anstrengung er ebenso herausfordert wie belohnt.
Diesem Leser, jener Leserin kommt es nicht in erster Linie darauf an, einen angeblich «schwierigen» Text im Sinn des Autors verstanden zu haben, will heissen: das Gelesene als Verstandenes zu haben, vielmehr darauf, lesend etwas damit anzufangen, ihm einen Sinn zu geben, der über jede (immer bloss nachvollziehbare) Bedeutung hinausreicht; will ausserdem heissen: diese Gedichte zu verstehn, bedeutet zu verstehn, dass es bei solchen Gedichten nicht ums Verstehn ihrer Bedeutung geht.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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