Tschechowiana

I

Anton Tschechow war zweiundzwanzig Jahre alt, als er 1882, innert weniger Monate, in diversen Moskauer Zeitschriften ein halbes Dutzend Prosastücke unter dem kuriosen Pseudonym Antoscha Tschechonte erscheinen liess. Die Texte, vom Autor bald als «Romane» oder «Kleinromane», bald als «Erzählungen» oder auch bloss als «etwas Romanähnliches» rubriziert, stehn für sein narratives Frühwerk, das ausserdem zahlreiche Feuilletons, Anekdoten, Humoresken einschliesst und das bis heute sein Image als «heiterer», «milder», «menschenfreundlicher», «unterhaltsamer» Klassiker mitbestimmt.
Was der junge Tschechow zu lesen gibt, hat, vom Plot her, fast ausschliesslich mit Liebesdingen zu tun, kann aber gleichzeitig als desolater Beleg dafür gelten, dass es Liebe hienieden nicht gibt. Das generelle Liebesdefizit der Spezies Mensch wird freilich vom Erzähler nicht beklagt, nicht einmal bedauert – er stellt es, kühl lavierend zwischen Melancholie und Zynismus, lediglich fest. Mal geht es um die erste, mal um die letzte Liebe, mal um verpasste oder verratene, mal um erpresste und missbrauchte Liebe. Da in aller Regel das Textende mit dem Ende einer Liebesbeziehung, dieses wiederum mit dem Ende eines Lebens zusammenfällt, bekommen die ansonsten eher lächerlichen, bisweilen grotesk überspannten Geschichten einen diskret elegischen Unterton.
Das Personal, mit dem Tschechow seine frühe Prosa ausstattet, besteht durchweg aus heruntergekommenen, nicht selten pathologisch oder kriminell verformten Typen – Frauen wie Männern – aus allen russischen Gesellschaftskreisen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Verarmte Adlige, arrivierte Emporkömmlinge, müssiggängerische Offiziere, weltfremde Intellektuelle, aufgetakelte Provinzkokotten, unterwürfige, zugleich eigensinnige und vor keiner Schandtat zurückschreckende Gutsverwalter und Stallknechte, Hausdiener oder Kutscher bevölkern Tschechows literarischen Kosmos. Die meist schematisch gezeichneten und grell kolorierten Figuren stehen in auffallendem, oft karikaturhaftem Kontrast zu ihrer inneren Leere und ihrer von Todes- und Endzeitahnungen verschatteten Umwelt.
Literarisch hat sich Tschechow mit diesen Lehrlingssstücken keinerlei bleibende Meriten verdient. Von genialischen Erstlingswürfen kann nicht die Rede sein, eher schon von jugendlichem Nachahmungseifer, der hier allerdings nicht an «klassischen» Vorbildern abgearbeitet wird, vielmehr an jener erfolgreichen, künstlerisch unbedarften Unterhaltungsbelletristik, die damals in Russ
land, gleichzeitig mit dem Aufkommen  der kommerziellen Berufsschriftstellerei, in geradezu industriellem Ausmass grassierte. Offenkundig war Tschechow, der als mittelloser Provinzler in Moskau Fuss zu fassen suchte, während Jahren bemüht, seine Prosabagatellen in den Kreislauf der marktgängigen Trivialliteratur einzuspeisen. «Ich setzte mich hin und schrieb», hat er selber eingestanden: «Ich überlegte nicht, wie und worüber. Es schrieb sich von selbst. Ich konnte schreiben wann auch immer.»
Weder Tschechows fulminantes Erzähltempo noch seine schrillen Szenenbilder können darüber hinwegtäuschen, dass die Geschichten tatsächlich fahrig hingeschrieben, die handelnden Personen klischeehaft typisiert, die aufgegriffnen Themen und Probleme oberflächlich abgehandelt sind. Dass die Sonne, wo sie auf- oder untergeht, noch jedes Mal Gold oder Purpur über der armen Erde auszugiessen hat; dass jungfräuliche Wangen grundsätzlich von zartem Rot umspielt sein müssen; dass liebeshungrige Schwerenöter das Objekt ihrer Begierde immer noch einmal «mit den Augen verschlingen»; dass jüdische Charaktere in jedem Fall auf die stereotypen Rollen des ruchlosen Karrieristen, des zerlumpten Stehgeigers oder der geldgeilen Nutte festgelegt sind – all dies und Ähnliches mehr wäre auch bei vielen, inzwischen längst vergessnen Erfolgsautoren jener Zeit zu haben.
Zumindest ansatzweise wird Tschechows spätere Handschrift erkennbar in der geschickten Stimmenführung seiner Helden, die sich oft seitenlang in direkter Rede unterhalten, beschimpfen, belehren, belügen, bedrohen dürfen. Auffallend umsichtig und solide ist auch die dramaturgische Vernetzung des handelnden Personals. Demgegenüber bleiben deskriptive Passagen – Landschaften, Interieurs, Stilleben – in aller Regel eher summarisch und bilden zu den lebhaften Szenen bloss einen matten Hintergrund. Manche sprunghaften Übergänge, abrupte Rückblenden oder Abbrüche mag man als störend, jedenfalls als unmotiviert empfinden, denkbar ist aber, dass solche Schwachstellen dadurch bedingt sind, dass Tschechow die meisten der vorliegenden Texte 
in Fortsetzungen publizierte, sie deshalb von Fall zu Fall – sei’s durch Kürzungen, sei’s durch Hinzufügungen – der jeweils vorgebenen Zeilenzahl anpassen musste.
Tschechow selbst hat sich von seinem graphomanischen Frühwerk schon bald emanzipiert und ist zu dem unverwechselbaren Meister geworden, als den man ihn gemeinhin kennt. Dass er nie wieder auf die unter Pseudonym veröffentlichten Texte zurückgegriffen, sie in keine seiner Werksammlungen und auch nicht in die Gesamtausgabe von 1899 aufgenommen hat, lässt auf die selbstkritische Skepsis schliessen, mit der er seine schriftstellerischen Anfänge retrospektiv eingeschätzt hat: «So hast du mal geschrieben!» Erst als er unter seinem eignen Namen zu publizieren begann, fand Tschechow zu seinem unverwechselbaren Personalstil und bald auch zu seiner Meisterschaft.

II

Ebenso auffällig wie Fjodor Dostojewskijs Allgegenwart als viel zitierter Meisterdenker im postkommunistischen Russland ist die Tatsache, dass Anton Tschechow – trotz der hohen Wertschätzung, die ihm schon immer zuteil wurde und weiterhin zuteil wird – in den kontroversen Debatten um die «russische Idee», den «russischen Weg», die «russische Zukunft» keinerlei Rolle spielt. Politiker wie Publizisten tun sich schwer, Tschechow parteilich oder weltanschaulich zu vereinnahmen, und tatsächlich sind bei ihm weder patriotische Slogans noch gar prophetische Sprüche zu holen. Wohl hat Tschechow die Kürze als «Schwester» seines literarischen Talents bezeichnet, ein Aphoristiker war er dennoch nicht, dem Gedankenblitz zog er die Nachdenklichkeit vor, der effektvollen Vereinfachung – die kompromisslose Einfachheit, der zitierbaren Wahrheit – die präzise Wahrnehmung.
Im Unterschied zu Dostojewskij (den er nicht sonderlich mochte) war Tschechow kein «engagierter», philosophisch und politisch versierter Autor, der sich zum anklägerischen oder 
schönrednerischen Sprachrohr irgendwelcher Interessengruppen hätte machen wollen. Glaubenssätze zu vertreten, höhere Einsichten auf den Punkt zu bringen, Urteile abzugeben, Prognosen zu verkünden, Rezepte auszustellen – das alles war seine Sache nicht. Der schon mehrfach unternommene Versuch, Tschechows «Gedanken», «Ideen» oder «Lebensweisheiten» anthologisch zu erschliessen, hat sich denn auch jedes Mal als unproduktiv erwiesen: Wer von diesem Autor leicht zitierbare und jäh einleuchtende Maximen oder Reflexionen erwartet, wird enttäuscht sein von der Sprödigkeit und Beharrlichkeit, mit der ihm – dem Leser – nichts andres als der schlichte Menschenverstand und dessen Gebrauch beliebt gemacht wird: «Also zum Teufel mit der Philosophie der Grossen dieser Welt!»
Auf bisweilen irritierende Weise war Tschechow denn auch da
rauf bedacht, sich klein zu machen, sein Werk für «geringfügig» zu halten, den öffentlichen Diskurs zu meiden, in der Annahme, er habe ohnehin nichts Relevantes – keine «Wahrheiten» – beizutragen über Gott und die Welt, das Leben und den Tod. Statt sich selber, als Autor, zu all dem vernehmen zu lassen, was gemeinhin für «wesentlich» oder auch bloss für «aktuell» gehalten wird, hat er nur einfach beobachtet und wiedergegeben, wie der zeitgenössische russische Normalverbraucher – gleich welcher sozialen Herkunft – in Wort und Tat sich kundtat. Objektiv «wie ein Chemiker» hat er die tausenderlei Verbindungen und Reaktionen analysiert, aus denen sich das Leben jedes Einzelnen und das der Gesellschaft insgesamt aufbaut, und früh kam er zur Einsicht, dass das Alltagsgeschehen jegliche literarische Gestaltung «in puncto Zynismus» so klar übertrifft, dass der Schriftsteller eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, nichts zu kommentieren, sondern nur noch festzuhalten habe, «wie es in Wirklichkeit ist».
Statt also wie Dostojewskij zu sagen, worauf es ankommt, und zu mutmassen, was auf die Welt zukommt, begnügt sich Tschechow damit, aus stets gleichbleibender Distanz aufzuzeigen, was der Fall ist, und eben dies weist ihn als einen zutiefst gleichgülti
gen Beobachter aus, dem tatsächlich alles und jedermann gleichermassen gültig ist. Fast klingt es zynisch (und ist doch nur ein Imperativ vernünftigen Tuns), wenn Tschechow in einem Privatbrief festhält: «Auf dieser Welt muss man unbedingt gleichgültig sein. Nur die Gleichgültigen sind in der Lage, die Dinge klar zu sehen, gerecht zu sein und zu arbeiten …» Gelegentlich hat man Tschechow diese Gleichgültigkeit zum Vorwurf gemacht, hat sie missverstanden als politisches Desinteresse, als ohnmächtige Hinnahme menschlichen Leids und menschlicher Niedertracht. Weit öfter noch wurde die von ihm vorgeführte schlechte Alltäglichkeit, die dominiert ist von Gier, Neid, Angst, Verrat, falscher Hoffnung und falschem Glück, dadurch aufgehellt und erträglicher gemacht, dass man auf das «milde Lächeln» verwies, mit dem der Autor den Horror der Normalität angeblich denn doch immer wieder verklärt und damit erträglich gemacht habe.
Aber wie man es auch dreht und wendet – bei Tschechow gibt es keinen Trost. All seine Bühnen- und Erzählwerke, eingeschlossen die beliebten Humoresken und Satiren, sind letztlich desolate Nullsummenspiele, man könnte auch sagen: Permanentszenen ohne Anfang und Ende – die Katastrophe in Permanenz, die Lüge in Permanenz, die Trivialität in Permanenz. Tschechow kennt, im Gegensatz zu Dostojewskij, weder positive Helden noch bedrohliche Dämonen, die nachzuahmen oder zu bekämpfen wären; nicht sozialen, ethnischen, religiösen oder weltanschaulichen Differenzen gilt sein Interesse, sondern der Tatsache, dass Bauern wie Intellektuelle, Frauen wie Juden, Proleten wie Adlige, Ärzte wie Künstler, Geistliche wie Militärs gleichermassen verantwortungslos, korrupt, geil, denkfaul, selbstsüchtig, brutal, feige, angeberisch, unehrlich oder ehrlos sein können.
Ob schlecht oder gut, hässlich oder schön, dumm oder klug, arm oder reich – bei Tschechow geht es um den Menschen schlechthin, um das Menschliche am Menschen, doch dieses bleibt hinter dem Bestialischen und Banalen so weit zurück, dass es nur ausnahmsweise überhaupt noch auszumachen ist, bei ei
nem geschundnen Kind vielleicht oder auch, metaphorisch versetzt, bei einem geschlagnen Hund.
Schon Tschechows Werktitel lassen mehrheitlich erkennen, dass seine Kurzgeschichten und Erzählungen, wie heiter und abgeklärt auch immer sie daherkommen, eher düster grundiert sind: Der Tod eines Beamten; Im Heim für unheilbar Kranke und Alte; Der Übeltäter; Krankenzimmer Nr. 6; In der Fremde; Alt ge­worden; Kummer; Pech; Gram; Sumpf; Ein Alptraum; Ein Malheur; Typhus; Lebensüberdruss u.ä.m. Vielfach erweisen sich jedoch gerade solche Texte als besonders trostlos, die durchaus unauffällige Titel tragen wie Mein Leben; Drei Jahre; Weiber; Schlafen, nur schlafen! oder gar Eine langweilige Geschichte. In ruhig rapportierendem Erzählduktus, der eher auf dialogisches denn auf deskriptives Sprechen vertraut, führt Tschechow verschiedenste Menschen und Szenen aus allen Bereichen der russischen Alltagswelt vor, und fast immer entsteht dabei der Eindruck, dass das Geschehen einer eignen, sei’s vom blinden Zufall, sei’s von der blinden Natur gelenkten Dynamik folgt, die nicht zu beeinflussen ist und in aller Regel auf ein katastrophales Ereignis hinausläuft – auf ein Missverständnis, eine Enttäuschung, einen Verlust oder auch, ebenso katastrophal und ebenso unabwendbar, auf die Liebe, das Glück, die Befreiung – wozu? «Wenn Sie sich aber Glück wünschen», lässt Tschechow einen Lagerhäftling räsonieren, «dann dürfen Sie sich vor allem nichts wünschen. Ja …»
Tschechow wollte, nach eignem Bekunden, «den Menschen ehrlich sagen: Seht, wie schlecht und öde ihr lebt …» Für die meisten seiner kläglichen Antihelden scheint tatsächlich alles nichts oder jedenfalls nichtig zu sein. Das Leben wird fast durchweg als «Leere und Langeweile» empfunden, die Menschen – Frauen wie Männer – sind mehrheitlich «uninteressant, farblos, dumm und unmoralisch». In der grossen Erzählung Drei Jahre wird die Sinnlosigkeit allen Beginnens gleich im ersten Abschnitt festgemacht an Vokabeln wie «dunkel», «fahl», «warten», «Rückweg», «Abend» und, gleich zweimal, «Ende». In einem andern 
Text (Weiber) ist von jemandem die Rede, der sich «im Schatten der Kirchhofmauer» aufhält und bei dem man nicht erkennen kann, «ob es ein Mensch ist oder eine Kuh oder vielleicht überhaupt niemand».
In Das Duell klagt ein junger Mann, der sich für einen «überflüssigen Menschen» hält und sich eigentlich «eine Kugel durch den Kopf jagen» möchte, gegenüber seinem Freund: «Es fällt einem einfach nichts ein … Nun, sag mir doch: Was soll ich tun?» In Eine langweilige Geschichte heisst es von der Familie des Icherzählers: «Lauter Nullen! Wenn sie heute stürben, kein Mensch würde morgen ihr Fehlen bermerken.» Das Leben – jedermanns Leben – gleicht einem richtungslos im Dunkel treibenden Schiff (Gussew): «Weder auf Deck noch auf den Masten noch auf dem Meer ringsum sind Lichter zu sehen … Das Schiff scheint sich selbst überlassen zu sein und zu fahren, wohin es will.» In seiner ebenso abgründigen wie luziden Skepsis vermochte Tschechow in der condition humaine weder einen Sinn noch eine Bewährungsprobe oder gar eine höhere Bestimmung zu erkennen; das Leben war für ihn nur einfach dies – das Leben: «Mehr ist dazu nicht zu sagen.»

III

Der Philosoph Lew Schestow hat Anton Tschechow bald nach dessen frühem Tod als den «Sänger der Hoffnungslosigkeit» bezeichnet, um ihn gleichzeitig als einen Autor – als den Autor – zu feiern, der aus nichts und für nichts ein künstlerisches Werk von höchstem Rang geschaffen habe. Ein «Sänger der Hoffnungslosigkeit» war Tschechow aber keineswegs deshalb, weil er die Hoffnungslosigkeit besungen hätte, seine Grösse und Kraft bestand vielmehr darin, dass er sich durch die hoffnungslose Verkommenheit, von der er umgeben war und die er für unheilbar hielt, nicht vom «Singen» abbringen liess. «Beharrlich, trostlos und monoton hat Tschechow in den 25 Jahren seiner literarischen Tätigkeit immer nur eines getan», meint Schestow: «Bald mit diesen, bald mit jenen Mitteln hat er die menschlichen Hoffnungen zerschlagen.» Aber «diese» und «jene» Mittel waren künstlerischer Art, ermöglichten und erbrachten in Form von literarischen Meisterstücken positive Setzungen, die der wüsten Alltagswelt als eine eigene, ganz andre und von ihr unabhängige Realität entgegen stehen.
Doch Tschechows grundsätzlicher, oft abgründiger Skeptizismus machte auch vor dem Schreiben, vor der «künstlerisch genannten Literatur» und deren Wirkungsmöglichkeiten zur Verbesserung des Menschengeschlechts nicht halt. Von sich selbst konnte Tschechow sagen, er sei eigentlich «kein Künstler» und jedenfalls «ein schlechter Kritiker», er «verstehe von Theater wenig» und sei kaum in der Lage, zusammenhängend, bündig, wertend über Literatur sich auszusprechen. Gegenüber dem Verleger und Publizisten Aleksej Suworin hat Tschechow, auf dem Höhepunkt seines Ruhms, mit geradezu nihilistischem Furor die eigene Nullität herausgestellt und die Sinnlosigkeit künstlerischen Tuns beklagt – ein ebenso eindrückliches wie desolates Statement, das Samuel Becketts Apologie des Scheiterns vorwegzunehmen scheint: «Wir haben weder Nah- noch Fernziele, unser Herz ist wie leergefegt. Wir haben keine Politik, an die Revolution glauben wir nicht, wir haben keinen Gott, haben keine Angst vor Gespenstern, ich persönlich habe nicht einmal Angst vor dem Tod oder dem Erblinden. Wer nichts will, auf nichts hofft und vor nichts Angst hat, der kann kein Künstler sein. Ob dies eine Krankheit ist oder nicht – es geht nicht um die Bezeichnung, sondern um das Eingeständnis unserer Lage …» So viel Nüchternheit bei solch ausweglosem Pessimismus hat etwas geradezu Erhabenes; keine Spur von Furcht, von Verzeiflung, keine Ausflüchte, dafür der unbedingte Wille, angesichts der Weltlage und der eignen Wenigkeit dennoch da zu sein, um das Elend, souverän ins Wort gefasst, zu bezeugen und es, eben dadurch, auch zu bestehn.
«Ich bin kein Liberaler, kein Konservativer, kein Reformer, kein Mönch, kein Indifferenzler», hat Tschechow einst notiert: «Ich 
möchte ein freier Künstler sein und weiter nichts.» Völlig fremd war ihm die Ambition Fjodor Dostojewskijs, nicht nur ein freier Künstler, sondern auch Meinungsmacher und Wahrheitsapostel, Warner und Prophet zu sein. Den grossen Worten über Russlands Wesen, an dem die Welt genesen sollte, zog er jene kleinen Taten vor, die ganz unheroisch von jedem Einzelnen hienieden zu realisieren wären und die womöglich doch – nach tausend, nach zehntausend Jahren – die Welt zum Bessern verändern könnten. An den Menschen generell, an den russischen Menschen speziell hat Tschechow, wiederum im Gegensatz zu Dostojewskij, niemals glauben können, auch hielt er nichts von heiligmässigen oder heldischen Vorbildern, nichts von hehren Idealen, nichts von kirchlichen Dogmen und politischen Programmen, denen nachzuleben wäre. «Ich glaube», so lautet sein prosaisches Credo, «an den einzelnen Menschen, ich sehe die Rettung in Einzelpersönlichkeiten, die da und dort über ganz Russland verstreut sind – egal, ob Intellektuelle oder Bauern, in ihnen liegt die Kraft, auch wenn sie nur ein kleines Häufchen sind.»
Während Dostojewskij mit penetrantem Pathos seine Thesen zur Balkan- und Judenfrage, zum Niedergang Europas und zur universalen Mission des Russentums öffentlich kundtat, markierte Tschechow immer mal wieder – durchaus unspektakulär, aber sehr konsequent – einen kleinen «Fortschritt», indem er in der zurückgebliebnen russischen Provinz bald eine Schule, ein Sanatorium, eine Bibliothek gründete, bald als Landarzt unentgeltlich Behandlungen oder Impfungen durchführte. Solches Engagement – der spontane persönliche Einsatz dort, wo die Not es erfordert – ist effizienter, als hehre Fernziele aufzuzeigen und eine lichte Zukunft zu beschwören. «Nicht auf die Pläne kommt es an», so heisst es in einer Tschechowschen Kurzgeschichte (Gus­sew), «sondern auf ein menschenwürdiges Leben!» Aber heute wie damals scheint in Russland das Bedürfnis, «stets nach dem Grossen zu greifen, weil man das Kleine nicht fertigbringt», stark ausgeprägt zu sein, und wohl deshalb hat dort – dem gesunden 
Menschenverstand zum Trotz – das prophetische Wort Dostojewskijs noch immer weit höhere Geltung als Tschechows pragmatische Ethik der kleinen Schritte.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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