Unverwandt

Ich bin im Besitz mehrerer Wohnungen, weiss nicht, wie ich sie nutzen soll, suche eine nach der andern auf, treffe jedesmal auf unpassende Möblierung und ungebetene Bewohner, die Räume sind mir eigentlich ganz fremd, ich kenne mich nicht aus darin, und doch sind sie mir vertraut «wie» aus frühern Träumen oder auch «wie» aus einem frühern Leben, viele mir unbekannte Frauen, junge und ältere, bewegen sich durch die Zimmerfluchten, wir finden uns zu einer Tafelrunde im Freien zusammen, ein grosses altes Wörterbuch wird herumgereicht, jemand (eine Stimme) sagt, eigentlich müsste das Wörterbuch doch wie das Leben mit der Geburt beginnen, worauf ich entgegne, dass Wörterbücher meistens von hinten aufgeschlagen werden, «bei Omega», sage ich und suche irgendein bekanntes Gesicht in der Runde, aber da ich das schwere abgegriffne Buch aufschlage, ist es ein Bildband über Byzanz, voll von Katastrophenbildern, Kampfszenen, Leichenhaufen, ein Mädchen mit Kopftuch schaut mir aus tiefen schwarzen Augen beim Blättern zu und lächelt dabei unver­wandt.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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