Wunschökonomie

I

Menschliches Begehren will nie nicht alles; es gibt keine Einzel- oder Sonderwünsche.

II

Für das Begehren gilt die unökonomische Devise je mehr desto mehr. Sex, Geld, Macht sind die gängigen Beispiele dafür; Kunst gehört nicht dazu, es sei denn, man subsumiere sie als materiellen Wert unterm Leitwort Geld.

III

Und noch ein triviales Beispiel – wer endlich seinen Urlaub antreten möchte, macht in aller Regel nicht bloss eine Reise, um irgendwo in einem Hotel anzukommen; er wünscht sich, darüber hinaus, Entspannung und Ruhe und Lesezeit, vielleicht Abwechslung, Abenteuer, Extremerfahrung usf., wünscht sich also einen alternativen Gegenzug zur schlechten Alltäglichkeit und allgemein etwas ganz anderes.

IV

Ebenso trivial: Wer in die Liebe kommen will, sucht – die Kontaktanzeigen im Internet machen es ebenso klar wie die eigne Erfahrung – gerade nicht nach dem beliebigen, vielmehr nach dem zu liebenden, schliesslich geliebten exklusiven Partner, wünscht sich aber gleichzeitig und darüber hinaus einen Menschen, der alles und noch viel mehr zu sein vermöchte, Geschäftspartner, Nutte, Kumpel, Mutter, Wandervogel, Pferdediebin, Freund, Tochter, Reise- oder Konzertbegleiter und, nicht zuletzt, die Liebe an sich.

V

Egal, was einer liebt, er liebt vorab die Liebe und sich selbst, liebt, um ein Maximum zu haben.

VI

Dem entzieht sich aber, ausser Gott, das Ich. Das unabweisbare Bewusstsein, selbst Ich zu sein, verhindert, dass Ich, über alle Selbstliebe hinaus, sich haben kann. Von daher das Begehren nach dem immer wieder andern; von daher die existentielle Realität des Doppelgängers; von daher die Notwendigkeit, auch im Gegner sich selbst als den andern lieben, also beherrschen, also haben zu wollen; von daher, bis zuletzt, die Befangenheit im Begehren nach jenem andern, der – oder das – man selbst nicht auch noch sein kann.

VII

Weniger triviale Beispiele dafür sind Eva und Adam, Abel und Kain, du und ich. Nur wunschlos kann Glück sein und nur jenseits des Begehrens – Liebe.

 

aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe
zusammengetragen aus kritischen, poetischen und privaten Feldern

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